(Sonntagsgeschichte, bearbeitet)
Die alte Emma ging zum Geländer am Ufer des Parkteichs und schüttete die Tüte mit den Brotkrumen ins Wasser. Die Enten näherten sich und schnatterten …
Sie ging zurück und setzte sich auf die Bank. Ihr Mantel war warm genug, um ein paar Minuten zu verweilen.
Sie hatte keine Wut mehr im Herzen, es war alles so gekommen, wie es kommen musste.
Seitdem hatte sie den Jungen nicht mehr gesehen.
Nur zwei Tage nach dem Mauerfall bekam sie einen Anruf.
„Waltraud hat sich erschossen“, sagte eine brüchige Stimme, und sie erkannte Dieter. Sie schwieg.
„Mit meiner Pistole“, sagte Dieter.
Emma wartete einen Moment. Sie räusperte sich.
„Wo und wann ist die Beerdigung?“ fragte Emma.
„Ich möchte nicht, dass du zur Beerdigung kommst.“
Und er legte auf.
Die Bank am Teich war schon seit Jahren ein Ziel für Emmas Ausflüge. Natürlich häufiger in den warmen Jahreszeiten, aber die Vorweihnacht zeigte sich dieses Jahr mild wie ein Frühling.
Emma hatte die Wahl mit der Straßenbahn zwei Stationen zum Park zu fahren … oder zu laufen, das hielt sie fit. Heute war sie gelaufen, aber nicht wegen der Fitness. Die war in ihrem Alter nicht mehr so wichtig.
Aber die Gesundheit schon, sagte ihr eine innere Stimme, die sie auch immer wegen des Bauchproblems plagte. Vielleicht war das Laufen da empfehlenswert.
Die Stadt und die Bahnen waren voller Menschen, die mit Hast nach den Geschenken suchten; als könnten sie da ihre Erinnerungen nach schöne Weihnachten wieder einfangen.
Die alte Emma hatte niemanden zu beschenken; und der Gedanke an die kleine Jella war wohl eine Schwäche ihres Gefühls, eine Sentimentalität.
An der frischen Luft konnte sie ihr Denken auslüften, das war das Wichtigste.
Alles, was sie beschäftigte, erlebte sie in Gedanken, oft in Rede und Gegenrede.
Was aber sollte sie Jakob sagen, wenn er Morgen zu Besuch kommt?
Sie musste verantwortlich damit umgehen.
Einmal, das muss schon vor sieben oder acht Jahren gewesen sein, saß sie im Frühsommer auf der Bank und beobachtete die Landschaft, die Menschen … ganz in Gedanken, und genoss den Frieden des Parks. Da stand plötzlich ein Mann, vielleicht so Mitte fünfzig, neben ihr und sah sie an. Er sah sie so an, wie man ein vergessenes Bild betrachtet und sich zu erinnern sucht. Emma schaute ihn auch an und lächelte, es war Markus, sie erkannte ihn wieder.
„Emma?“ fragte er, „Emma Mielke?“
„Ja“, sagte Emma, „Markus, setze dich zu mir.“
Markus war ein enger Freund Reinhards gewesen. Auch er war damals in Prag dabei, als sie die Panzer fotografierten; auch er wurde verhaftet.
Aber aus irgendeinem Grund gelang es einem Rechtsanwalt ihn frei zu bekommen, während Reinhard in seiner Zelle tobte, wurde Markus verschont.
Damals vor sieben oder acht Jahren führten sie ein langes Gespräch und der nun schon über Fünfzigjährige offenbarte eine innere Zerrissenheit, warum sein Freund so zu Tode kommen musste. Er selbst durfte sogar an die Uni zurückkehren, schrieb seine Doktorarbeit und wurde ein erfolgreicher Physiker.
Emma sagte ihm, dass sie ihn einmal im Fernsehen gesehen hatte, als er für seine wissenschaftliche Arbeit ausgezeichnet wurde mit einem Orden und Erich Honecker ihm persönlich die Hand schüttelte.
„Ja“, sagte er, „dafür schäme ich mich noch heute.“
Nein, hielt ihn Emma ab, dafür müsse er sich nicht schämen. Die Willkür in einer Diktatur verschonte die einen und bestrafte die anderen, ohne dass man es nachvollziehen konnte.
„Ich hatte ja dann Kinder und Familie“, sagte er.
Emma lächelte in diesem Moment, weil sie fühlte, dass sie keine Bitterkeit mehr in sich hatte.
Markus verabschiedete sich mit den Worten:
„Wir hatten alle Reinhard beneidet um seine schöne Freundin und Emma, Sie sind ja immer noch schön.“
Die alte Emma lächelte und stand auf. Es war nun doch sehr kühl geworden. Sie ging die kleine Anhöhe hoch, wo ein Pavillon stand. Damals musste sie doch schon 70 Jahre alt gewesen sein. Da sind Frauen nicht mehr schön, höchstens interessant, während Männer mit 70 nicht mehr interessant sind, aber manche halten sich für schön. Sie lächelte amüsiert und sah auf die Enten wie zum Abschiedsgruß, die sich wunderten über den Besuch und die Brotfütterung.
Drinnen konnte sie sich aufwärmen und eine Tee trinken.
Als sie in den Raum trat, saß da Paul Brandner, als hätte er auf sie gewartet.
Emma lächelte, als hätte sie damit gerechnet.
Sie ging zu ihm an den Tisch und grüßte.
Paul Brandner sagte:
„Emma, ich wollte sie nicht stören, Sie lächelten so versonnen auf ihrer Bank, ich kam hier zufällig vorbei.“
„Zufällig?“ sagte Emma.
Und sie dachte, was ist schon Zufall? Ist unser Leben nicht wie die Erzählung in einem Buch, in dem eins zu dem anderen passt?
„Ich dachte gerade an das letzte Kompliment, das ich in meinem Leben bekam, das war wohl vor acht Jahren.“
Paul Brandner lachte.
„Ein Kompliment kann ich Ihnen noch heute machen.“
„Und welches?“ fragte Emma.
Emma fühlte sich erholt durch die frische Luft. Der kleine Pavillon war leer, auch draußen im Park war es menschenleer. Nur Paul saß hier und strahlte sie an. Vor ihm stand eine Tasse Kaffee.
„Sie verfolgen mich“, sagte Emma und lächelte sanft. Sie bestellte bei der jungen Kellnerin, die so müde aussah als hätte sie die Nacht nicht geschlafen:
„Einen Tee und einen kleinen Rum.“
Paul lehnte sich zurück.
„Ich habe Sie tatsächlich gesehen wie Sie in den Park gingen, habe mein Auto geparkt und bin Ihnen gefolgt.“
„In Ihrem Alter fahren sie noch Auto?“
Paul lachte.
„Finden sie mich gebrechlich?“
„Nein.“
Aber Emma dachte, mit über achtzig Jahren sollte man trotzdem nicht mehr Auto fahren, verschwieg jedoch besser den Gedanken.
Die junge Kellnerin kam und brachte ihr Tee und Rum und lächelte als würde sie Emma und Paul Sympathie schenken wollen, Emma lächelte dankend zurück. Die junge Frau war groß und schlank und wirkte etwas schlaksig, fast grazil – sie erinnerte Emma an sich selbst, als sie jung war. Und ihr Lächeln war eine Botschaft vom Alter zur Jugend, die es durchaus gibt, wenn man sich innerlich verwandt fühlt. Paul schien diese Sprache der Augen zu verstehen und lächelte selbst auf eine versonnene Art.
„Wohl bekommt ’s“, sagte die Kellnerin, das klang warmherzig und altmodisch.
Es war sehr still im Gastraum, eine Kaffeemaschine blubberte vor sich hin. Die Stille war ja auch draußen wie die Stille einer unwirklichen Welt … oder eines Bilds der Sachlichkeit.
Paul schwieg auch.
Als sie durch die Stadt ging, war die so voller Hektik, die Menschen sahen nicht glücklich aus, weil sie eilen und einkaufen mussten für die Weihnachtszeit.
Als wäre Emma hier auf einer Insel angelangt.
„Ich fahre ja sehr vorsichtig“, sagte Paul.
Emma nickte und trank einen winzigen Schluck vom Rum.
„Ich habe Sie da auf der Bank beobachtet, Sie wirkten so zufrieden“ sagte er.
„Ja“, sagte Emma, „das bin ich ja auch.“
Paul schwieg wieder.
Plötzlich sagte er wie aus einer Überlegung heraus:
„Emma, ich denke, Sie sind irgendwie aus der Welt gefallen, ja, Sie sind ein aus der Welt gefallener Engel, ja, das sind Sie, ohne Sünde und mit sich selbst im Reinen.“
Emma war verdutzt und lachte laut auf.
„Wie kommen Sie denn auf so was“, sah ihn etwas schmunzelnd an, „soll das etwa Ihr angesagtes Kompliment sein?“
Paul Brandner nickte, in seinen Augenwinkeln nisteten Lachfalten, die sich jetzt ausbreiteten wie eine Garbe Sonnenstrahlen „ja, ja, das ist mein Kompliment für Sie … ich habe gesehen, wie Sie leben, kein Fernseher, kein Computer, die vielen Bücher, ihr Klavier, alles wirkt so aufgeräumt und klar. Sie sind jedoch überhaupt nicht unzufrieden, so in sich ruhend – und trotzdem sind Sie auch den Menschen gegenüber zugewandt und freundlich; und auf eine angenehme Art distanziert. Wie begeistert der Hans über Sie gesprochen hat …“
Emma legte ihm die Hand auf den Arm.
„Hören Sie auf“, sagte sie, „ich bin eine alte und unbedeutende Frau und kein Engel – und ich brauche auch nicht solche Lobeshymnen.“
„Aber Sie sind so sehr allein“, sagte Paul, „wenn Sie wüssten wie viele unzufriedene alte Menschen es gibt, die ihre Tage mit Jammern verbringen …“
„Das will ich erst gar nicht wissen“, unterbrach ihn Emma und grinste sogar.
„Wenn Sie möchten“, sagte die junge Kellnerin mir ihrer warmen und dunklen Stimme, die hinter dem Tresen auftauchte, „können Sie hier ruhig rauchen.“
Paul Brandner schmunzelte überrascht.
„Danke, Sie können stumme Fragen beantworten.“
Die junge Frau lachte ebenfalls und verschwand schon wieder.
Emma trank noch einen winzigen Schluck vom Rum.
Dann sah sie zu, wie er sich eine Zigarre anzündete. Es wurde gemütlich.
„Am Mittwoch ist die Beerdigung von Hans, wir wollen alle hingehen, kommen Sie mit?“ fragte Paul und wedelte den Rauch beiseite.
„Wer sind denn wir?“ fragte Emma.
„Meine Enkelin und meine Urenkelin und ich.“
Emma überlegte.
„Ich gehe zum Friedhof, aber ich möchte allein gehen, vorher besuche ich noch ein anderes Grab.“
„Es werden hunderte Menschen kommen“, sagte Paul.