(ein Märchen für Erwachsene)
Wie jeden Samstag kurz vor 20.00 Uhr schaltete er den Fernsehapparat an, um die Ziehung der Lottozahlen zu verfolgen. Er befand sich allein in seiner Wohnung, hatte die Füße hochgelegt, sich in den Sessel gefläzt und seinen Lottoschein in der Hand.
Seine Freundin Anna war nicht anwesend, sie besaß eine eigene kleine Wohnung, und an Tagen wie heute, in denen sie Nachtschicht hatte, schlief sie meist dort. Sie hatten eine gute Lösung gefunden.
Die Lottofee setzte die Trommel in Bewegung. Der Mann zündete sich eine Zigarette an, trank einen Schluck Bier, von Aldi, die billigste Sorte, sein Herz schlug etwas schneller. Die Kugel rollte, fiel in den durchsichtigen Zylinder, eine zwei. Er schaute auf seinen Schein. Die Zwei hatte er dreimal. Oh, dachte der Mann, das ist ein gutes Zeichen, vielleicht habe ich einen Dreier oder sogar einen Vierer. Wenn man flüstern könnte in Gedanken, war das letzte Wort geflüstert.
Wieder rotierte die Trommel, sein Herz schlug noch ein wenig schneller, und er trank einen größeren Schluck Bier. Die nächste Zahl war eine Zehn. Er guckte auf den Schein, die Zehn hatte er zweimal, allerdings nur einmal auf dem Tipp, auf dem sich eine Zwei befand. Na immerhin, dachte er, einen Zweier habe ich, bringt zwar nichts, aber eine Chance besteht noch.
Beim nächsten Drehen der Trommel, begann sein Herz ein wenig an zu wummern. Er zündete sich zur Beruhigung eine neue Zigarette an.
Eine Dreizehn kollerte in den dritten Zylinder.
Nein, sagte sich der Mann, nachdem er auf den Schein guckte, das ist aber schön, ich habe einen Dreier sicher. Im gleichen Moment schien ihm das Herz auszusetzen. Ich habe einen Dreier, grübelte er, und es sind erst drei Zahlen gezogen worden. Das heißt, ich habe eine Chance auf einen Vierer. Vor Aufregung schoss er aus dem Sessel, rannte in die Küche und holte sich ein neues Aldibier aus dem Kühlschrank.
Als der Mann wieder im Sessel saß, fiel die vierte Kugel: eine Zweiundzwanzig. Seine Hände hielten zwar die Bierbüchse, und er wollte sie gerade öffnen, aber irgendetwas in seinem Kopf flackerte, die Zweiundzwanzig habe ich doch gesehen, sagte ihm das Flackern.
Die Bierbüchse stellte er schnell auf den Tisch und nahm den Schein in die Hand.
„Ich habe einen Vierer.“ Diesen Satz sprach er deutlich und laut aus, obwohl er doch allein war. Jetzt klebte er am Sessel. Der Mann öffnete zwar die Bierbüchse, Schaum quoll über auf den Tisch, aber er achtete nicht darauf. Sein Blick starrte gebannt auf den Bildschirm, und er verfolgte die Bekanntgabe der fünften Zahl und hielt dabei den Atem an. Eins war ihm natürlich klar. nur noch der eine Tipp war wichtig. Eine Sieben, diese Kugel sah er praktisch in Zeitlupe fallen. Ohne auf den Schein zu gucken, wusste er, er hatte die Sieben. Sein Herz raste. Ich muss ganz ruhig bleiben, diese Stimme in ihm sprach wie ein zweites Ich.
Sicherheitshalber schaute er noch einmal auf den Schein, es war alles klar, er hatte einen Fünfer.
„Das ist ein Haufen Geld“, sprach er laut und lachte ein wenig irre. Er goss sich sogar Bier ins Glas, während sich die Trommel zum sechsten Mal drehte.
Der Mann trank einen winzigen Schluck Bier und setzte sofort das Glas wieder ab.
„Neununddreißig“, sprach er laut auf die sich bewegende Trommel ein, als könne er von hier aus das Ziehungsgerät irgendwo im fernen Studio hypnotisieren.
Das Phänomen eines kleinen Schocks kann mitunter bedeuten, dass es denjenigen, den der Schock trifft plötzlich in einen ganz ruhigen Zustand versetzt. Genau das geschah mit dem Mann. Die erscheinende Neununddreißig nahm er gelassen und wie, das ist doch selbstverständlich, zur Kenntnis. Er trank einen ganz normalen Schluck Bier und zog an der Zigarette.
Ein Sechser, ein Hauptgewinn, es gab keinen Zweifel, oder doch. Immer wieder schaute er auf den Schein, auf den Bildschirm, nein es blieb wahr.
Als die Superzahl gezeigt wurde, und die Lottofee gewissermaßen für ihn, mit einer ruhigen Stimme sie laut aussprach, kam er in einen Zustand, der keine Änderung seiner Reaktion mehr zuließ. Die Superzahl war eine Zwei, und auch diese Zwei stand auf seinem Schein.
Ein Sechser mit Superzahl hielt der Mann in der Hand. Die Erwähnung des Spiels 77 und der Super 6 nahm er gar nicht zur Kenntnis. Als die Lottofee redete: „Wir gratulieren den oder die Gewinner, im Jackpot befinden sich 7,5 Millionen Euro“; hörte er zwar diesen Satz, aber so wie durch Watte, als befände sich Watte in seinen Ohren. Er nahm die Fernbedienung und schaltete einfach den Apparat aus und trank in einem Zug das Glas Bier leer.
Er stand auf, seine Beine zitterten, und er ging auf den Balkon. Die Straße zeigte sich menschenleer. Hinten an der Ecke befand sich eine Kneipe, die nicht seine Stammkneipe war
Aber es fiel Licht aus den Fenstern auf die Tische, die auf dem Bürgersteig standen. Einige Männer saßen dort und tranken ihr Bier, Männer wie er aus dem Kiez, die meisten wie er arbeitslos. Das wusste er einfach, ohne sie persönlich zu kennen. So verhielt es sich eben hier, die meisten Menschen, die in solchen Kneipen saßen, hatten ihre Arbeit verloren.
Der Mann überlegte, ob er am Gitter rütteln und laut in die warme Sommernacht schreien sollte: „Ich bin Millionär, ich habe im Lotto gewonnen!“ Jedoch blieb ihm ein Gefühl, das wäre reichlich albern, und er ließ es sein.
Er ging zurück in die Stube und schaltete den Fernsehapparat ein, die Tagesschau lief. Der Sprecher verkündete, dass der Altbundeskanzler Schmidt einen Herzinfarkt erlitten hatte, sich aber auf den Weg der Besserung befände.
Der Lottogewinner schaltete den Apparat sofort wieder aus und sprach laut. „Helmut Schmidt ist mir egal.“ Dann durchschüttelte ihn ein Kichern. Er goss sich den Rest des Bieres aus der Büchse ins Glas, das nur noch zur Hälfte gefüllt wurde. Er trank das Bier aus, beschloss aber sich kein Neues zu holen. Und der Lottogewinner rauchte noch eine Zigarette. Nach außen wirkte er ganz ruhig, in seinem Kopf kreiste aber nichts weiter als eine Zahl.
So, dachte der Lottogewinner, jetzt müssten sie es im Videotext haben. In der folgenden halben Stunde schaltete er den Apparat ungefähr fünfmal ein, verglich die Zahlen, schaltete gleich wieder aus. Dann hörte er damit auf. Es gab keinen Zweifel mehr. Natürlich, überlegte sich der Lottogewinner, es können auch fünf Gewinner sein, dann habe ich nur ein Fünftel.
„Nur!“ Er sprach dieses Wort auch laut aus, und wieder durchschüttelte ihn ein Kichern.
Ich kann jetzt endlich meine Telefonrechnung bezahlen und brauche nicht auf die dritte Mahnung warten. Sein Kichern ging in lautes Gelächter über. Das erwies sich als gut für den Lottogewinner, wie eine Beruhigungsspritze.
Ich muss Anna anrufen, fiel ihm plötzlich ein.
Anna arbeite als Schwester im Krankenhaus. Am Telefon hörte er ihre Kollegin, sie kannte ihn.
„Anna ist gerade auf der Intensivstation, ist es etwas Wichtiges, soll sie später zurückrufen?“
„Nee, so wichtig ist es nicht, ich sehe sie ja morgen früh, schönen Gruß an Anna!“
Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, dachte er, das war eben verrückt von mir und gleichzeitig vernünftig.
Der Lottogewinner setzte sich wieder in die Stube, fläzte sich in den Sessel, legte wie gewohnt die Füße hoch und dachte eine halbe Stunde nach.
Das Ergebnis seiner Überlegungen war folgendes: Heute darf ich keinem Menschen davon erzählen, ich muss zwei Nächte darüber schlafen, am Montag kann ich mich eh darum kümmern, also muss ich heute und morgen der Mensch bleiben, der ich bisher bin. Das klang alles sehr vernünftig. Aber ich kann jetzt nicht allein bleiben, dachte er, ich muss mich irgendwie ablenken. Er beschloss, seine Tochter anzurufen,
Am Telefon meldete sich sein Schwiegersohn: „Hallo Kutte“, sagte er, „wie geht’s, wie steht’s?“
Kutte, nun wissen wir endlich den Namen des Lottogewinners, antwortete: „Schläft Töchterchen schon?“
„Ja.“
„Und der Kleine?“
„Der schläft auch.“
„Und du?“, fragte Kutte, der Lottogewinner.
Der Schwiegersohn lachte.
„Ich schlafe nicht, sonst würde ich ja jetzt nicht mit dir sprechen, Kutte, du wirst langsam alt.
Der Lottogewinner lachte mit und dachte an seinen Vorsatz.
„Hast du noch Lust auf ein Bier?“
Der Schwiegersohn schwieg einen kleinen Moment und antwortete dann:
„Warum nicht, bei der schönen Luft, zwei, drei Bier, ist ’ne gute Idee.“
„Aber du bist dran mit bezahlen“, sagte Kutte, der Lottogewinner. Offenbar hatte er gut nachgedacht.
„Wieso ich“, fragte der Schwiegersohn, „habe ich nicht schon das letzte Mal?“
„Nein“, fiel ihm der Lottogewinner ins Wort, „da hab ich bezahlt.“
Der Schwiegersohn lachte wieder.
„Stimmt, ich dachte, du hättest es vergessen.“
Und dann sagte er: „Okay, ich bezahl‘, also in fünf Minuten bei Peter.“
Peter war der Wirt ihrer Stammkneipe. Tochter und Schwiegersohn wohnten nur zwei Straßen entfernt vom Lottogewinner Kutte.
Während sich Kutte die Schuhe anzog, dachte er, dass der Kerl mich immer mit Kutte anredet, müsste er nicht eigentlich Papa sagen, oder so. Und, er grinste dabei, wenn er weiß, dass ich Millionär bin, sagt er bestimmt nicht mehr Kutte, das wäre aber auch wieder blöd.
Genießerisch ließ der Millionär und Lottogewinner Kutte das Guinness vom Fass die Kehle herunterrinnen. Das schmeckte besser als das Aldibier aus der Büchse. Dann setzte er das Glas ab und schaute seinem Schwiegersohn tief in die Augen. Sie saßen sich gegenüber auf dem Bürgersteig, Peter hatte bei diesem Wetter natürlich auch Tische nach draußen gestellt.
„Was würdet ihr machen, wenn ich im Lotto gewonnen hätte, und ich euch eine Million schenke?“
Der Schwiegersohn prustete und verschluckte sich fast am Bier.
„Kutte, ist dir heute die Hitze in den Kopf gestiegen?“
„Nee, sag mal, für den Fall der Fälle.“
Der Schwiegersohn überlegte eine Weile.
„Ich würde eine eigene Firma aufmachen, und die Million würde sich nach und nach verdoppeln.“
Kuttes Schwiegersohn war Ingenieur vom Beruf, aber natürlich genau so arbeitslos wie Kutte, der nur als ein einfacher Baumaschinist früher arbeitete.
Und, überlegte sich Kutte schweigend, in Wirklichkeit wär ’s du in einem Jahr Pleite, diesen Haien bist du gar nicht gewachsen. Das Punkmädchen Jana tauchte auf. Sie schlug Kutte im Vorbeigehen auf die Schulter.
„Na, Alter?“
Kutte hielt sie fest.
„Setz dich doch mal zu uns, er kauft dir ein Bier.“
Der Millionär wies mit dem Zeigefinger auf den Schwiegersohn. Dieser knurrte zwar, aber sagte: „Okay, eins.“
Kutte wartete bis Jana ihr Hefeweizen serviert bekam und einen tiefen Schluck genoss.
„Aaah“, ließ Jana vernehmen, „das tat gut bei der Wärme.“ Sie wischte mit dem Handrücken über den Mund.
„Jana“, der Lottogewinner redete ganz ernst, „was würdest du machen, wenn ich im Lotto ein Haufen Geld gewinnen würde, und ich würde dir eine Million schenken?“
Sein Schwiegersohn kicherte wieder und bemerkte: „Jana, du musst wissen, Kutte hat heute einen Hitzestich erlitten.“
Jana lachte nicht. Sie schaute vor sich hin und drehte gedankenverloren das Bierglas. Dann wandte sie sich Kutte zu und blickte ihm tief in die Augen. Ob sie was ahnt, dachte Kutte erschrocken.
„Weißt du, Kutte“, sagte Jana, „das wäre ein echtes Problem, sagen wir mal, ich würde unser besetztes Haus renovieren lassen. Der Besitzer hat kein Geld, er duldet uns, weil er für dieses Haus sowieso keine Mieter findet, wäre das Haus aber renoviert, fände er Mieter, wir müssten raus, und uns ein neues suchen.“ Sie legte eine Pause ein. Der Millionär lächelte. Das ist ja ein kleiner Vortrag, besann er sich. Und Jana fuhr fort:
„Kutte, würde ich in diesem Fall zu dir sagen, du bist ein ganz lieber, aber ich möchte dein Geld nicht.“
Als wenn die Rede zu lang geworden war, dass ihre Kehle ausdörrte, setzte sie das Glas an und trank es bis zur Neige aus.
Dann stand sie auf.
„Tschüssi, ihr beiden, danke für das Bier, ich muss los, wir haben heute noch eine Aktion vor.“
Der Millionär sah ihr nach. Er konnte sich die Art ihrer Aktion schon vorstellen. Sie besprühten Häuserwände mit Sprüchen wie „Kapital ist nie sozial“ oder „Kein Mensch ist illegal“. Er lächelte ihr nach. Die Kleene, dachte er mit einer gewissen väterlichen Zärtlichkeit.
„Machen wir Schluss?“, fragte der Schwiegersohn.
„Ja, das reicht für heute“, antwortete der Lottogewinner und Millionär Kutte.
Als Anna nach Hause kam, saß Kutte immer noch im Sessel.
„Bist du schon auf oder noch auf?“, fragte Anna und gab ihm einen Kuss.
„Noch, ich schlaf mit dir ein paar Stündchen.“
Anna hatte den Sonntag frei, und sie planten für den Nachmittag einen Besuch im Tierpark.
„Soll ich dir was zu essen machen?“
„Nee, ich trink nur noch ein Bier“, bemerkte Anna.
Sie nahm einen tiefen Schluck und stöhnte etwas.
„War es schlimm heute?“, fragte der Lottogewinner.
„Ach, hör auf, irgend so ein scheiß Mercedesfahrer hat einen zwölfjährigen Jungen überfahren und dann Fahrerflucht gemacht.“
„Die Polizei kriegt ihn“, brummte Kutte, er war wütend.
„Ach, dass ist nicht mein Problem, aber der Junge ist halb zerfetzt.“
„Kommt er durch?“
„Der Doktor sagte fuffzig zu fuffzig.“
Anna sah wirklich kaputt aus. Im Bett sah sie ihn an.
„Kutte, mach mir noch einen, aber auf die Schnelle, damit ich zum Schlafen komme.“
„Dann hock“, sagte Kutte.
Und er nahm sie von hinten, das ging schön schnell. Das war keine großartige Nummer, aber sie kamen beide. Es war wie eine Butterstulle essen, statt Kaviar zu schlürfen.
„Danke, Kutte“, sprach sie verschwitzt und schaute ihn glücklich an.
„Was würdest du eigentlich sagen, wenn wir ein paar Millionen im Lotto gewinnen?“
Anna fielen schon halb die Augen zu, und sie murmelte im Einschlafen.
„Erstens würde nur einer von uns gewinnen. Jeder von uns beiden ist viel zu stolz von dem anderen Geld zu nehmen. Also würden wir auseinander gehen, derjenige ist spätestens in zwei Jahren unglücklich, der das viele Geld hatte, und der andere lebt sein Leben weiter.“
Schon schnarchte sie ein wenig.
„Schlaf schön“, flüsterte ihr Kutte zu und küsste sie auf die etwas verschwitzte Stirn. Sie lächelte im Schlaf.
Obwohl er weniger geschlafen hatte, wurde Kutte nach ein paar Stunden als erster wach.
Er bereitete ein schönes Frühstück mit Eier, Speck und Zwiebeln und Tomaten.
Kutte pfiff vor sich hin. Er wusste ja, dass sie nach dem Frühstück noch einmal ins Bett gehen und eine schöne lange Nummer machen würden.
Bevor er sie weckte, zerriss er den Lottoschein in viele kleine Fetzen.
Am nächsten Freitag stand Kutte, der ehemalige Millionär wieder im Lottoladen und kreuzte einen Schein an.
(2011)