Bemerkenswert

Bücher

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Taschenbücher von Harald Timm, veröffentlicht bei amazon self publishing, nicht Mitglied irgendeines „Literaturbetriebs“, Hobbyautor und Rentner mit Katze.

Bürger eines verschwundenen Landes im Exil,  ohne Heimat, jedoch gut versorgt mit allem, was es braucht zum Leben.

Franz Summer, ein Pseudonym nur für dieses Blog, sucht keine Anhänger und ist nie selbst Anhänger von wem oder was auch immer.

ohne Werbung

Die Katzenschnur

Die ein Meter lange Paketschnur liegt auf dem Teppich, sauber parallel zum Muster geordnet. Die Katze hatte wohl ihr neues Spielzeug akzeptiert und in ihre Welt aufgenommen. Die alte war schon arg zerfasert.

Sie braucht nichts weiter als ein Stück Schnur. Sie kann dieses durch die Wohnung transportieren und irgendwo anordnen und dadurch kryptische Botschaften senden. Sie kann die Schnur in die Luft werfen wie einen Ball, sie kann sie jagen wie eine Maus, sie kann mit ihr herum tollen wie mit einem Spielkameraden. Die Schnur ist wie ein Band zum Himmel des Katzenglücks.

Manchmal ist sie mit ihrer Futterration nicht einverstanden, dann liegt die Schnur im Wassernapf und zieht eine Spur durch die Küche.

Manchmal will sie mir ihre Liebe zeigen, dann liegt die Schnur vor meinem Bett wie eine erlegte Maus.

Manchmal liebt sie auch einfach nur die Schnur, dann liegt diese zusammengerollt im Schlummerkorb in der Flur ecke… sie gehört in ihre Welt, von der ich genau genommen fast nichts weiß, allenfalls ahne.

Für mich nur eine Schnur, für die Katzen ein Wesen.

Emma Mielke 20

(Sonntagsgeschichte, bearbeitet)

Sie war keine Literaturexpertin, das Erbe des Herrn Carsten war dagegen ein Segen für sie, die Bücher noch mehr als das Geld, von dem sie sogar ihre Wohnung als Besitz erwerben konnte. Seine väterliche Güte hatten ihr ein sorgenfreies Alter beschert.

Emma hatte darüber nachgedacht, warum Herr Carsten über seine Vergangenheit geschwiegen hatte. Er kümmerte sich um so viele Menschen, die ungerecht behandelt wurden und litten, aber er sprach nie von dem Leid in sich selbst. Er hörte lieber zu, als von sich zu reden.

Das war sein Geheimnis und sie hatte von ihm gelernt.

Wer traurig ist, sollte unter die Leute gehen, um auf andere Gedanken zu kommen, so oder ähnlich hatte er sich mal geäußert. Es war wohl eine Traurigkeit in ihm; und so fand er in der Kümmernis um andere seinen Trost.

Wie Emma, hielt auch er nichts von einem Leben nach oder vor dem Tod.

In den seltenen Momenten, in denen er mit ihr über seine Privatbefindlichkeit redete, erzählte er ihr einmal, dass er in Hände einer sogenannten Heilerin geriet, die ihn hypnotisierte, um die Wanderung seiner Seele durch Vorgänger seiner selbst auf die Schliche zu kommen.

„Ich war dann ganz entspannt“, erzählte er lachend, „und ging dann in Gedanken durch eine Tür in wallende Nebel hinein.“

„Sind Sie sich selbst begegnet?“ fragte da Emma auch sehr belustigt.

„Nein niemanden bin ich begegnet.“

„Und warum ist es nicht gelungen?“

Er verdrehte theatralisch die Augen.

„Weil mir die gute Frau vorher gesagt hatte, es könne auch sein, dass ich früher eine Frau war, und das wollte ich auf keinen Fall erleben …“

Die damals noch junge Emma lachte lauthals.

Herr Carsten war in der DDR-Zeit oft auf Dienstreise in der BRD. Er kümmerte sich neben anderen Anwälten auch um den Freikauf von Häftlingen, denn der Staat war schon so weit heruntergekommen, dass er seine Bürger wie ein Sklavenhändler verramschte, so äußerte Herr Carsten sich verbittert. Und seine Klienten waren nicht nur die Prominenten.

Sie erinnerte sich, dass er von einer Gerichtsverhandlung in die Kanzlei kam und wütend schnaubte, dass man jetzt schon ganz kleine arme Würstchen mit hohen Zuchthausstrafen belegte, weil das ja die Preise für den anschließenden Menschenhandel hoch trieb.

Der Mann brauchte zum Ausgleich ab und an eine komische Begebenheit aus dem komischen Westen, dazu gehörte die Heilerin mit der Seelenwanderung.

Emmas Gedanken waren spazieren gegangen, und sie hatte mehrere Seiten gelesen und dabei an Herrn Carsten gedacht, der alle Ideale verloren hatte.

Aber sprach sie in Gedanken mit ihm als wäre sie ebenfalls auf einer Seelenwanderung:

„Und jetzt haben wir ein anderes System und die Leute gehen in Kirchen und verehren den Papst, ist das nicht komisch.“

Und der Herr Carsten antwortete in Gedanken:

„Die Menschen haben eine Neigung dazu, ihren Verstand zu verlieren.“

Der Anlass war damals, dass er ihr ein Plädoyer diktierte für ein Verfahren gegen die Zeugen Jehovas, die selbst in der DDR überdauerten wie Unkraut am Wege.

Emma legte das Buch beiseite, ihre Gedanken ließen sich nicht im Zaum halten.

Sie stand auf und ging ans Fenster.

Das ist vielleicht ein Zeichen des baldigen Todes, dachte sie, dass die Erinnerungen so hoch wie Blasen kommen, Gedankenblasen.

Herr Carsten, sie lächelte versonnen, konnte auch sehr witzig sein.

Ja, wenn sie es sich recht überlegte, sie könnte sich auch nicht vorstellen, in einem vorigen Leben ein Mann gewesen zu sein. Und ganz kurz kam die Erinnerung an die Jahre hoch, als sie die Dame mit dem Schleier im Sexkino war.

Damals hatte sie immer gedacht, was doch Männer für traurige kleine Kinder sind in ihrem Herzen.

Sie ging ins Bad und öffnete den Spiegelschrank. Morgen Mittag, bevor Jakob kommen wird, würde sie zwei von den Tabletten nehmen, nicht dass ihre Aufregung zu einem Anfall führen sollte. Eigentlich nahm sie keine, aber das war eine Ausnahme.

Der Doktor verschrieb ihr immer Stirn runzelnd neue.

Sie sollte sich doch in eine Röhre schieben lassen, um den Bauch untersuchen zu können, aber das wollte sie nicht. Wenn die Zeit reif war, war sie reif.

„Aber nehme Sie nicht mehr als zwei Tabletten am Tag, sonst wachen Sie nie mehr auf“, hörte sie ihn im Geiste beschwörend raunen.

„Ja, ja, Doktorchen“, sagte Emma leise vor sich hin und grinste.

Wenn er wüsste, in den letzten drei Jahren hatte sie ein ganzes Schrankfach voll gesammelt … als Gepäck für die letzte Reise.

Sie ging zurück in die Stube und schaltete das Radio ein.

„War Gott eine Pampelmuse im Urknall?“ sagte eine Stimme.

Das schien eine der üblichen Kabarett Sendungen zu sein. Das war eben das Verrückte an der neuen Zeit, einerseits glauben die Menschen an ein Jenseits, andererseits machen sie sich gern lustig darüber.

Sie setzte sich hin und hörte zu.

Am nächsten Tag saß sie ihm gegenüber.

Jakob also.

Emma hatte sich früher oft gefragt, warum seine Eltern diesen biblischen Namen gewählt hatten, aber auch diese Frage für sich behalten.

Sie stellte nicht gern Fragen.

Er saß da und sah sie an, und in seinen Augen erkannte sie immer noch den kleinen Jungen von einst wieder. Sie lächelten beide. Ja, sie waren sich nach fast vierzig Jahren noch auf eine eigentümliche Weise vertraut, aber Emma hatte keine Verwandtschaftsgefühle, obwohl sie doch von einem Blute waren … wie es so schön heißt.

Sie fühlte die Wirkung der Tabletten und im Bauch war kein Schmerz und kein Drücken anwesend.

Sie hatte ihm vom Bäcker Mohnkuchen gekauft, früher aß er so gern den Kuchen, den sie selbst gebacken hatte.

„Mh, Mohnkuchen“, sagte Jakob und ließ offen, ob er sich auch erinnerte.

Emma wartete.

Jakob lehnte sich zurück und sah in die Runde, als würde er eine Kamera halten und die ganze Wohnung filmen wollen.

„Doch“, sagte er, „ich erinnere mich schwach, aber vieles ist total anders.“

„Du warst sechs Jahre alt, als du das letzte Mal hier warst, inzwischen bist du fünfundvierzig, oder.“

Jakob hatte schon gelichtete Haare, aber fuhr sich mit der Hand hindurch wie früher als Kind durch den dichten Schopf, wenn er eine schwierige Frage beantwortet zu wissen suchte.

Emma erinnerte sich an diese Geste und fühlte sich irgendwie heiter.
„Ja, fünfundvierzig bin ich – beinahe“, und sagte dann, “aber Tante Emma, weißt du, wie viele Jahre ich noch von dieser Wohnung geträumt hatte.“
Emma sah sich zweifelnd um.
„Es wurde so viel geändert in der Wohnung, acht Jahre nach der Wende wurde das Haus rekonstruiert, das war eine schwierige Zeit, drei Jahre lang lebten wir quasi auf einer Baustelle.“
„Die Wohnstube ist jetzt riesig, das waren doch damals zwei Zimmer, glaube ich fast“, bemerkte Jakob und zeigte sich äußert interessiert.
„Ja, das stimmt, ein kleines Zimmer war abgeteilt.“
Emma dachte, damals hielt sich dort Reinhard versteckt.
„Damals schlief ich in dem kleinen Zimmer, wenn ich hier war“, sagte Jakob.
Er kannte den Reinhard gar nicht, dachte Emma und sah ihn lächelnd an, das war ja fünf Jahre später.
Jakob schien über etwas nachzudenken.

Sie ließ ihm Zeit.

Auf einmal hellte sich seine Miene auf und sein etwas blasses Gesicht leuchtete, als hätte er einen besonders guten Einfall.

„Hast du nicht noch einen Teddy von mir, den ich immer zum Schlafen brauchte, wenn ich hier übernachtete“?

Emmas Lächeln ging in ein Grinsen über.

„Jakob, du wirst doch nicht etwa sentimental werden?“

Er lachte eine Spur verlegen.

Und ab dann waren sie sich wieder vertraut und verwandt. Das Blut ist es nicht allein.

„Vielleicht habe ich ja noch einen Teddy in den Tiefen meines Schranks versteckt“, sagte Emma, „ich gucke mal bei Gelegenheit nach.“

Sie gingen in die Stube, um Wein zu trinken. Auch Jakob hatte eine Flasche mitgebracht.

Er erzählte ihr alles, was seit seiner Kindheit vorgefallen war. Sie tranken und Emma hörte zu.

Jakob war damals sehr wütend gewesen, als Emma, seine Patentante, aus seinem Leben verschwunden war als wäre sie zu einem Geist geworden, und er hatte es schon verstanden, dass irgendwie sein Vater den Streit vom Zaun gebrochen hatte. Der Zaun, der schützend vor seiner Tante gestanden hatte und bemerkte, dass dann sein Herz gebrochen wurde, und Emma warf ein … meines auch.

Jakob war so wütend, dass sich seine Eltern Sorgen machten. Schließlich kauften sie ihm ein Klavier und brachten ihn in einer Musikschule unter, denn er sprach immer wieder vom Klavierspiel der Tante, das ihm so fehlte.

Er lernte selbst das Spielen und versöhnte sich so mit der Situation.

Nach und nach gewannen seine Eltern den Einfluss über ihn, und er entwickelte sich zu einem vorbildlichen Pionier.

„Und zum Klassenkämpfer“, sagte Jakob grinsend und hob das Glas, Emma prostete ihm lächelnd zu.

Jakob zögerte etwas.

„Weißt du wie mein Vater immer von dir zur Mutter sprach?“

„Nein“, antwortete Emma, stutze, „sag es mir.“

„Deine Cousine, die Renegatin“, sagte er zur Mutter, „wenn von dir die Rede war.“

Emma lachte auf.

„Renegaten nannte man doch immer Stalins Gegner aus den eigenen Reihen.“

Er lachte nun auch.

„Ja, die Renegaten kommen immer aus den eigenen Reihen und sind die schlimmsten.“

„Jedenfalls in den Augen derjenigen, die sich nicht trauen, die Reihen zu verlassen.“

Emma war schon ein wenig betrunken.

„Tja“, bemerkte sie, „dabei taugte ich weder zu einer Jüngerin irgendeiner Lehre, noch zu einer Ketzerin.“

„Mein Vater ist immer noch ein Stalinist.“

„Er lebt noch? Er muss über neunzig Jahre alt sein!“

„Ja, er lebt in einem Heim, ist dement und singt ab und an Kampflieder aus der ruhmreichen Zeit.“

Emma schwieg.

Dann sagte sie.

„Das ist ja alles so traurig und jämmerlich.“

Und drehte das Weinglas nachdenklich in der Hand. Das Traurigste, dachte sie, sind solche, die daran geglaubt hatten.

Jakob erzählte weiter.

Trost finden

Jede Flucht bedeutet Ängstlichkeit und Depression, die so des Auswegs los ist, wenn man sich einen Ort aussucht, der noch schlimmer, wohin man eilt, als eine Entschuldigung für die eigene Schwäche, die von anderen zu finden, als den Beweis von Trostlosigkeit von allem.

Besser ist es, auf dem Balkon sitzend, ein Glas Wein zu trinken, eine Zigarre, die gut zieht, zu rauchen und Musik zu hören.

Und endlich Schlaf zu finden ohne Sorge, an was oder wen auch immer.

Wo ist denn meine Strickjacke, es wird kühl am Abend…

Lebenserwartung

Nun, wenn Sie sich die Zeit nehmen, diesen Artikel zu lesen, werden die Unterschiede ab 45 Jahre bemerkbar, ob Sie demnächst sterben oder nicht, also die Armen der „frühe Tod“halt eher ereilt. Doch ab Mitte siebzig wie bei mir, wird so mancher sagen, wieder ein reicher Mann gestorben. Das ist nicht unbedingt die Wahrheit, deshalb ist der Text völlig unnötig, oder :-))) Ich bin immer arm gewesen ohne sparsam zu sein, merde. Und lebe immer noch ohne Not zu leiden. Und unter uns, so mancher stirbt stinkreich und ist jünger als, nun ja 45 Jahre…

https://www.berliner-zeitung.de/news/rki-studie-lebenserwartung-reichere-menschen-leben-laenger-so-gross-ist-der-unterschied-in-deutschland-li.2211482

Der Lottogewinner

(ein Märchen für Erwachsene)

Wie jeden Samstag kurz vor 20.00 Uhr schaltete er den Fernsehapparat an, um die Ziehung der Lottozahlen zu verfolgen. Er befand sich allein in seiner Wohnung, hatte die Füße hochgelegt, sich in den Sessel gefläzt und seinen Lottoschein in der Hand.

Seine Freundin Anna war nicht anwesend, sie besaß eine eigene kleine Wohnung, und an Tagen wie heute, in denen sie Nachtschicht hatte, schlief sie meist dort. Sie hatten eine gute Lösung gefunden.

Die Lottofee setzte die Trommel in Bewegung. Der Mann zündete sich eine Zigarette an, trank einen Schluck Bier, von Aldi, die billigste Sorte, sein Herz schlug etwas schneller. Die Kugel rollte, fiel in den durchsichtigen Zylinder, eine zwei. Er schaute auf seinen Schein. Die Zwei hatte er dreimal. Oh, dachte der Mann, das ist ein gutes Zeichen, vielleicht habe ich einen Dreier oder sogar einen Vierer. Wenn man flüstern könnte in Gedanken, war das letzte Wort geflüstert.

Wieder rotierte die Trommel, sein Herz schlug noch ein wenig schneller, und er trank einen größeren Schluck Bier. Die nächste Zahl war eine Zehn. Er guckte auf den Schein, die Zehn hatte er zweimal, allerdings nur einmal auf dem Tipp, auf dem sich eine Zwei befand. Na immerhin, dachte er, einen Zweier habe ich, bringt zwar nichts, aber eine Chance besteht noch.

Beim nächsten Drehen der Trommel, begann sein Herz ein wenig an zu wummern. Er zündete sich zur Beruhigung eine neue Zigarette an.

Eine Dreizehn kollerte in den dritten Zylinder.

Nein, sagte sich der Mann, nachdem er auf den Schein guckte, das ist aber schön, ich habe einen Dreier sicher. Im gleichen Moment schien ihm das Herz auszusetzen. Ich habe einen Dreier, grübelte er, und es sind erst drei Zahlen gezogen worden. Das heißt, ich habe eine Chance auf einen Vierer. Vor Aufregung schoss er aus dem Sessel, rannte in die Küche und holte sich ein neues Aldibier aus dem Kühlschrank.

Als der Mann wieder im Sessel saß, fiel die vierte Kugel: eine Zweiundzwanzig. Seine Hände hielten zwar die Bierbüchse, und er wollte sie gerade öffnen, aber irgendetwas in seinem Kopf flackerte, die Zweiundzwanzig habe ich doch gesehen, sagte ihm das Flackern.

Die Bierbüchse stellte er schnell auf den Tisch und nahm den Schein in die Hand.

„Ich habe einen Vierer.“ Diesen Satz sprach er deutlich und laut aus, obwohl er doch allein war. Jetzt klebte er am Sessel. Der Mann öffnete zwar die Bierbüchse, Schaum quoll über auf den Tisch, aber er achtete nicht darauf. Sein Blick starrte gebannt auf den Bildschirm, und er verfolgte die Bekanntgabe der fünften Zahl und hielt dabei den Atem an. Eins war ihm natürlich klar. nur noch der eine Tipp war wichtig. Eine Sieben, diese Kugel sah er praktisch in Zeitlupe fallen. Ohne auf den Schein zu gucken, wusste er, er hatte die Sieben. Sein Herz raste. Ich muss ganz ruhig bleiben, diese Stimme in ihm sprach wie ein zweites Ich.

Sicherheitshalber schaute er noch einmal auf den Schein, es war alles klar, er hatte einen Fünfer.

„Das ist ein Haufen Geld“, sprach er laut und lachte ein wenig irre. Er goss sich sogar Bier ins Glas, während sich die Trommel zum sechsten Mal drehte.

Der Mann trank einen winzigen Schluck Bier und setzte sofort das Glas wieder ab.

„Neununddreißig“, sprach er laut auf die sich bewegende Trommel ein, als könne er von hier aus das Ziehungsgerät irgendwo im fernen Studio hypnotisieren.

Das Phänomen eines kleinen Schocks kann mitunter bedeuten, dass es denjenigen, den der Schock trifft plötzlich in einen ganz ruhigen Zustand versetzt. Genau das geschah mit dem Mann. Die erscheinende Neununddreißig nahm er gelassen und wie, das ist doch selbstverständlich, zur Kenntnis. Er trank einen ganz normalen Schluck Bier und zog an der Zigarette.

Ein Sechser, ein Hauptgewinn, es gab keinen Zweifel, oder doch. Immer wieder schaute er auf den Schein, auf den Bildschirm, nein es blieb wahr.

Als die Superzahl gezeigt wurde, und die Lottofee gewissermaßen für ihn, mit einer ruhigen Stimme sie laut aussprach, kam er in einen Zustand, der keine Änderung seiner Reaktion mehr zuließ. Die Superzahl war eine Zwei, und auch diese Zwei stand auf seinem Schein.

Ein Sechser mit Superzahl hielt der Mann in der Hand. Die Erwähnung des Spiels 77 und der Super 6 nahm er gar nicht zur Kenntnis. Als die Lottofee redete: „Wir gratulieren den oder die Gewinner, im Jackpot befinden sich 7,5 Millionen Euro“; hörte er zwar diesen Satz, aber so wie durch Watte, als befände sich Watte in seinen Ohren. Er nahm die Fernbedienung und schaltete einfach den Apparat aus und trank in einem Zug das Glas Bier leer.

Er stand auf, seine Beine zitterten, und er ging auf den Balkon. Die Straße zeigte sich menschenleer. Hinten an der Ecke befand sich eine Kneipe, die nicht seine Stammkneipe war

Aber es fiel Licht aus den Fenstern auf die Tische, die auf dem Bürgersteig standen. Einige Männer saßen dort und tranken ihr Bier, Männer wie er aus dem Kiez, die meisten wie er arbeitslos. Das wusste er einfach, ohne sie persönlich zu kennen. So verhielt es sich eben hier, die meisten Menschen, die in solchen Kneipen saßen, hatten ihre Arbeit verloren.

Der Mann überlegte, ob er am Gitter rütteln und laut in die warme Sommernacht schreien sollte: „Ich bin Millionär, ich habe im Lotto gewonnen!“ Jedoch blieb ihm ein Gefühl, das wäre reichlich albern, und er ließ es sein.

Er ging zurück in die Stube und schaltete den Fernsehapparat ein, die Tagesschau lief. Der Sprecher verkündete, dass der Altbundeskanzler Schmidt einen Herzinfarkt erlitten hatte, sich aber auf den Weg der Besserung befände.

Der Lottogewinner schaltete den Apparat sofort wieder aus und sprach laut. „Helmut Schmidt ist mir egal.“ Dann durchschüttelte ihn ein Kichern. Er goss sich den Rest des Bieres aus der Büchse ins Glas, das nur noch zur Hälfte gefüllt wurde. Er trank das Bier aus, beschloss aber sich kein Neues zu holen. Und der Lottogewinner rauchte noch eine Zigarette. Nach außen wirkte er ganz ruhig, in seinem Kopf kreiste aber nichts weiter als eine Zahl.

So, dachte der Lottogewinner, jetzt müssten sie es im Videotext haben. In der folgenden halben Stunde schaltete er den Apparat ungefähr fünfmal ein, verglich die Zahlen, schaltete gleich wieder aus. Dann hörte er damit auf. Es gab keinen Zweifel mehr. Natürlich, überlegte sich der Lottogewinner, es können auch fünf Gewinner sein, dann habe ich nur ein Fünftel.

„Nur!“ Er sprach dieses Wort auch laut aus, und wieder durchschüttelte ihn ein Kichern.

Ich kann jetzt endlich meine Telefonrechnung bezahlen und brauche nicht auf die dritte Mahnung warten. Sein Kichern ging in lautes Gelächter über. Das erwies sich als gut für den Lottogewinner, wie eine Beruhigungsspritze.

Ich muss Anna anrufen, fiel ihm plötzlich ein.

Anna arbeite als Schwester im Krankenhaus. Am Telefon hörte er ihre Kollegin, sie kannte ihn.

„Anna ist gerade auf der Intensivstation, ist es etwas Wichtiges, soll sie später zurückrufen?“

„Nee, so wichtig ist es nicht, ich sehe sie ja morgen früh, schönen Gruß an Anna!“

Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, dachte er, das war eben verrückt von mir und gleichzeitig vernünftig.

Der Lottogewinner setzte sich wieder in die Stube, fläzte sich in den Sessel, legte wie gewohnt die Füße hoch und dachte eine halbe Stunde nach.

Das Ergebnis seiner Überlegungen war folgendes: Heute darf ich keinem Menschen davon erzählen, ich muss zwei Nächte darüber schlafen, am Montag kann ich mich eh darum kümmern, also muss ich heute und morgen der Mensch bleiben, der ich bisher bin. Das klang alles sehr vernünftig. Aber ich kann jetzt nicht allein bleiben, dachte er, ich muss mich irgendwie ablenken. Er beschloss, seine Tochter anzurufen,

Am Telefon meldete sich sein Schwiegersohn: „Hallo Kutte“, sagte er, „wie geht’s, wie steht’s?“

Kutte, nun wissen wir endlich den Namen des Lottogewinners, antwortete: „Schläft Töchterchen schon?“

„Ja.“

„Und der Kleine?“

„Der schläft auch.“

„Und du?“, fragte Kutte, der Lottogewinner.

Der Schwiegersohn lachte.

„Ich schlafe nicht, sonst würde ich ja jetzt nicht mit dir sprechen, Kutte, du wirst langsam alt.

Der Lottogewinner lachte mit und dachte an seinen Vorsatz.

„Hast du noch Lust auf ein Bier?“

Der Schwiegersohn schwieg einen kleinen Moment und antwortete dann:

„Warum nicht, bei der schönen Luft, zwei, drei Bier, ist ’ne gute Idee.“

„Aber du bist dran mit bezahlen“, sagte Kutte, der Lottogewinner. Offenbar hatte er gut nachgedacht.

„Wieso ich“, fragte der Schwiegersohn, „habe ich nicht schon das letzte Mal?“

„Nein“, fiel ihm der Lottogewinner ins Wort, „da hab ich bezahlt.“

Der Schwiegersohn lachte wieder.

„Stimmt, ich dachte, du hättest es vergessen.“

Und dann sagte er: „Okay, ich bezahl‘, also in fünf Minuten bei Peter.“

Peter war der Wirt ihrer Stammkneipe. Tochter und Schwiegersohn wohnten nur zwei Straßen entfernt vom Lottogewinner Kutte.

Während sich Kutte die Schuhe anzog, dachte er, dass der Kerl mich immer mit Kutte anredet, müsste er nicht eigentlich Papa sagen, oder so. Und, er grinste dabei, wenn er weiß, dass ich Millionär bin, sagt er bestimmt nicht mehr Kutte, das wäre aber auch wieder blöd.

Genießerisch ließ der Millionär und Lottogewinner Kutte das Guinness vom Fass die Kehle herunterrinnen. Das schmeckte besser als das Aldibier aus der Büchse. Dann setzte er das Glas ab und schaute seinem Schwiegersohn tief in die Augen. Sie saßen sich gegenüber auf dem Bürgersteig, Peter hatte bei diesem Wetter natürlich auch Tische nach draußen gestellt.

„Was würdet ihr machen, wenn ich im Lotto gewonnen hätte, und ich euch eine Million schenke?“

Der Schwiegersohn prustete und verschluckte sich fast am Bier.

„Kutte, ist dir heute die Hitze in den Kopf gestiegen?“

„Nee, sag mal, für den Fall der Fälle.“

Der Schwiegersohn überlegte eine Weile.

„Ich würde eine eigene Firma aufmachen, und die Million würde sich nach und nach verdoppeln.“

Kuttes Schwiegersohn war Ingenieur vom Beruf, aber natürlich genau so arbeitslos wie Kutte, der nur als ein einfacher Baumaschinist früher arbeitete.

Und, überlegte sich Kutte schweigend, in Wirklichkeit wär ’s du in einem Jahr Pleite, diesen Haien bist du gar nicht gewachsen. Das Punkmädchen Jana tauchte auf. Sie schlug Kutte im Vorbeigehen auf die Schulter.

„Na, Alter?“

Kutte hielt sie fest.

„Setz dich doch mal zu uns, er kauft dir ein Bier.“

Der Millionär wies mit dem Zeigefinger auf den Schwiegersohn. Dieser knurrte zwar, aber sagte: „Okay, eins.“

Kutte wartete bis Jana ihr Hefeweizen serviert bekam und einen tiefen Schluck genoss.

„Aaah“, ließ Jana vernehmen, „das tat gut bei der Wärme.“ Sie wischte mit dem Handrücken über den Mund.

„Jana“, der Lottogewinner redete ganz ernst, „was würdest du machen, wenn ich im Lotto ein Haufen Geld gewinnen würde, und ich würde dir eine Million schenken?“

Sein Schwiegersohn kicherte wieder und bemerkte: „Jana, du musst wissen, Kutte hat heute einen Hitzestich erlitten.“

Jana lachte nicht. Sie schaute vor sich hin und drehte gedankenverloren das Bierglas. Dann wandte sie sich Kutte zu und blickte ihm tief in die Augen. Ob sie was ahnt, dachte Kutte erschrocken.

„Weißt du, Kutte“, sagte Jana, „das wäre ein echtes Problem, sagen wir mal, ich würde unser besetztes Haus renovieren lassen. Der Besitzer hat kein Geld, er duldet uns, weil er für dieses Haus sowieso keine Mieter findet, wäre das Haus aber renoviert, fände er Mieter, wir müssten raus, und uns ein neues suchen.“ Sie legte eine Pause ein. Der Millionär lächelte. Das ist ja ein kleiner Vortrag, besann er sich. Und Jana fuhr fort:

„Kutte, würde ich in diesem Fall zu dir sagen, du bist ein ganz lieber, aber ich möchte dein Geld nicht.“

Als wenn die Rede zu lang geworden war, dass ihre Kehle ausdörrte, setzte sie das Glas an und trank es bis zur Neige aus.

Dann stand sie auf.

„Tschüssi, ihr beiden, danke für das Bier, ich muss los, wir haben heute noch eine Aktion vor.“

Der Millionär sah ihr nach. Er konnte sich die Art ihrer Aktion schon vorstellen. Sie besprühten Häuserwände mit Sprüchen wie „Kapital ist nie sozial“ oder „Kein Mensch ist illegal“. Er lächelte ihr nach. Die Kleene, dachte er mit einer gewissen väterlichen Zärtlichkeit.

„Machen wir Schluss?“, fragte der Schwiegersohn.

„Ja, das reicht für heute“, antwortete der Lottogewinner und Millionär Kutte.

Als Anna nach Hause kam, saß Kutte immer noch im Sessel.

„Bist du schon auf oder noch auf?“, fragte Anna und gab ihm einen Kuss.

„Noch, ich schlaf mit dir ein paar Stündchen.“

Anna hatte den Sonntag frei, und sie planten für den Nachmittag einen Besuch im Tierpark.

„Soll ich dir was zu essen machen?“

„Nee, ich trink nur noch ein Bier“, bemerkte Anna.

Sie nahm einen tiefen Schluck und stöhnte etwas.

„War es schlimm heute?“, fragte der Lottogewinner.

„Ach, hör auf, irgend so ein scheiß Mercedesfahrer hat einen zwölfjährigen Jungen überfahren und dann Fahrerflucht gemacht.“

„Die Polizei kriegt ihn“, brummte Kutte, er war wütend.

„Ach, dass ist nicht mein Problem, aber der Junge ist halb zerfetzt.“

„Kommt er durch?“

„Der Doktor sagte fuffzig zu fuffzig.“

Anna sah wirklich kaputt aus. Im Bett sah sie ihn an.

„Kutte, mach mir noch einen, aber auf die Schnelle, damit ich zum Schlafen komme.“

„Dann hock“, sagte Kutte.

Und er nahm sie von hinten, das ging schön schnell. Das war keine großartige Nummer, aber sie kamen beide. Es war wie eine Butterstulle essen, statt Kaviar zu schlürfen.

„Danke, Kutte“, sprach sie verschwitzt und schaute ihn glücklich an.

„Was würdest du eigentlich sagen, wenn wir ein paar Millionen im Lotto gewinnen?“

Anna fielen schon halb die Augen zu, und sie murmelte im Einschlafen.

„Erstens würde nur einer von uns gewinnen. Jeder von uns beiden ist viel zu stolz von dem anderen Geld zu nehmen. Also würden wir auseinander gehen, derjenige ist spätestens in zwei Jahren unglücklich, der das viele Geld hatte, und der andere lebt sein Leben weiter.“

Schon schnarchte sie ein wenig.

„Schlaf schön“, flüsterte ihr Kutte zu und küsste sie auf die etwas verschwitzte Stirn. Sie lächelte im Schlaf.

Obwohl er weniger geschlafen hatte, wurde Kutte nach ein paar Stunden als erster wach.

Er bereitete ein schönes Frühstück mit Eier, Speck und Zwiebeln und Tomaten.

Kutte pfiff vor sich hin. Er wusste ja, dass sie nach dem Frühstück noch einmal ins Bett gehen und eine schöne lange Nummer machen würden.

Bevor er sie weckte, zerriss er den Lottoschein in viele kleine Fetzen.

Am nächsten Freitag stand Kutte, der ehemalige Millionär wieder im Lottoladen und kreuzte einen Schein an.

(2011)

Guter Artikel

https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/in-kriegszeiten-braucht-es-vor-allem-einen-humanitaeren-journalismus-li.2210429

Nur leider wird die „Interessenlage“ unser Medien im Ukrainekrieg außen vor gelassen. Sind wirklich Ukraine, Russland und Israel, Hamas so klar zu unterscheiden in „Gut und Böse“ ?

Ich bezweifle das.

Krieg, egal von welcher Seite, ist Hass, Nationalismus und Lüge.

Wirklich humanitärer Journalismus ist sich dessen bewusst.

Emma Mielke 19

(Sonntagsgeschichte, bearbeitet))

Später fuhr Paul sie mit dem Auto bis vor die Tür. Er fuhr vorsichtig.

Er hielt an und wollte gleich weiter fahren. Als sie aussteigen wollte, fragte er:

„Was ist Ihr Geheimnis, Emma?“

Sie sah ihn lange an. Dann sagte sie:

„Ich glaube an die Vergänglichkeit von allem, und natürlich auch an meiner eigenen.“

Sie stieg aus, grüßte und ging ins Haus.

Emma wartete bis Paul Brandner weggefahren war und ging zurück auf die Straße, die belebt war mit den Einkaufenden am letzten Advent. Wie es einer alten Frau geziemt, reihte sie sich unauffällig ein, denn alte Menschen werden nicht beachtet, weil sie irgendwie nicht mehr dazu gehören.

Sie ließ sich treiben und betrat zwei Querstraßen oberhalb der Kreuzung ein großes Musikgeschäft. Über zwei Etagen wurden hier Musikinstrumente und Noten angeboten. Es war angenehm aufgeräumt hier, eine gewisse kühle Eleganz ging von den Pianos und Flügeln aus, auf kleinen Bühnen waren Blas- und Streichinstrumente aufgestellt, als stünden sie bereit des Nachts zur Geisterstunde einem Orchester anzugehören, das Musik macht. Nur wenige Kunden schlenderten herum, vor einem Klavier stand ein älteres Paar. Sie flüsterten, und schauten in einer gewissen Ehrfurcht auf das Instrument. Vielleicht sollte es ja noch ein Geschenk zu Weihnachten für den Sohn oder die Tochter sein. Emma ging vorbei, und sie fühlte sich ein wenig wie in einer Kirche.

Im hinteren Bereich des Erdgeschosses standen Regale vor einem kleinen Verkaufstresen, die Notenabteilungen. Sie wartete.

Auf einmal erklangen helle Stimmen aus der oberen Etage, begleitet von Gitarren, und Emma lauschte staunend. Ein Chor sang Weihnachtslieder.

Emma erkannte natürlich jedes Lied wie eine Erinnerung aus ferner Kindheit. Schließlich gehörte sie einer Generation an, in der zu Weihnachten die Schleusen der Gefühlsseligkeit weit geöffnet wurden. Das war gewissermaßen das deutsche Gefühl, das in jeder Seele wohnte. Sie lächelte versonnen und hörte zu. Das war wie die Kindheit im fernen Ostpreußen, als man sich abends in der guten Stube versammelte und sang…

„Guten Abend, was wünschen Sie?“

Ein freundlicher Herr in mittleren Jahren stand hinter dem Tresen und lächelte über die etwas entrückte Emma. Sie sah ihn an, und gab ihm sein Lächeln zurück wie eine Antwort.

„Sie haben da oben wohl ein Weihnachtskonzert?“

Er dachte kurz nach.

„Na ja, das ist ein Kirchenchor, sie proben ein kleines Konzert für den Mittwoch, da wird wohl ein armer Mann beerdigt, der hier im Stadtbezirk sehr beliebt war.“

Emma stutzte.

„Der Hans?“

„Ja, das kann wohl sein.“

Emma dachte, der arme Hans, und sie lächelte nun etwas hintergründig. Er konnte wohl sein, dass er Hans hieß, nichts hätte mehr von der Vergesslichkeit künden können als diese Bemerkung.

Dann sagte sie:

„Ich wollte bei Ihnen Klaviernoten kaufen für eine blutjunge Anfängerin.“

Der freundliche Mann im mittleren Alter fragte auch etwas hintergründig lächelnd:

„Weihnachtslieder?“

„Um Himmels willen“, sagte Emma, „keine Weihnachtslieder. Vielleicht haben Sie ja so eine Klavierschule da.“

Sie hatte dann noch ein kleines Gespräch mit dem Verkäufer, der auch der Inhaber war. Wie sich herausstellte, hatte der Laden schon vor dem Krieg existiert und war Familienbesitz seit vier Generationen.

„Wir haben unbeschadet die DDR überlebt“, sagte er und zwinkerte ihr zu.

„Das kann nicht jeder ehemalige DDR-Bürger sagen“, antwortete Emma, und zwinkerte zurück. Sie wählte drei Notenhefte aus.

Auf dem Heimweg freute sie sich schon, das Geschenk für Jella zu verpacken und kaufte in einem Süßwarengeschäft einen Schokoladenweihnachtsmann dazu. Sie kaufte auch noch eine Flasche Wein ein, denn Morgen, so fiel ihr ein, wollte ja Jakob zum Besuch kommen, und er war inzwischen ein erwachsener Mann.

Als sie die Treppe hochging, summte sie halblaut Weihnachtslieder.

Auf einmal öffnete sich die Tür zu Frau Borcherts Wohnung, und diese selbst stand da. Sie verschränkte die Arme und lachte.

„Sie sind wohl in Weihnachtsstimmung, Frau Mielke?“

Emma grinste.

„Sie hören aber auch alles, Frau Borchert, das liegt Ihnen wohl im Blut?“

Darauf ging Frau Borchert natürlich nicht ein.

„Am Mittwoch ist die Beerdigung von dem Hans“, sagte sie und es klang triumphierend.

„Ich weiß“, antwortete Emma und ging die Treppe hoch, „die ganze Stadt scheint anwesend sein zu wollen.“

„Das gehört sich ja auch so“, rief ihr noch Frau Borchert nach. Das fand Emma irgendwie eigenartig. Es gehört sich so, war doch eigentlich eine Feststellung, die aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen schien.

Sagt man heute immer noch so, fragte sie sich die Treppe hinauf gehend.

Sie betrat ihre Wohnung und war allein.

Emma fühlte sich in der Einsamkeit ihrer Wohnung geborgen. Sie hatte das Gefühl, dass in den letzten zwei Wochen, seit sie vom Tode des Hans erfahren hatte, zu viele Ereignisse in ihrem Ereignis freiem sonstigen Leben geschehen waren. Sie fühlte sich ein wenig wie ein Boot auf stürmischer See. Und nun war die leere und stille Wohnung wie ein Hafen. Sie musste sich das alles gar nicht antun, dachte sie, öffnete das Küchenfenster und streute ein paar Körner auf das Fensterbrett.

Dann setze sie sich hin und wartete.

Es dauerte gar nicht lange, da segelte eine Meise herbei in ihrem schwarzweißen Federkleid am Kopf und dem schwarzen Kragen und gelbem Bauch, sie hüpfte, pickte und schaute in die Küche zu Emma, hielt dabei das Köpfchen schief und wirkte so fröhlich als stände nicht Weihnachten vor der Tür, sondern der Frühling. Dann hob sie ab und segelte zum Baum und zwitscherte wie eine Amsel. Emma ging zum Fenster und sah zu ihr dort auf dem kahlen Ast, lächelte und schloss wieder das Fenster, als das Vögelchen in den Himmel aufstieg als wolle es sein Lied in die Weite des Universums tragen…

Sie hatte immer mehr Probleme mit der harten Stelle im Bauch, die manchmal brannte wie eine Glut in ihr … und manchmal drückte wie ein harter Stein. Sie aß vor allem Suppen und trank Tee. Was sollte sie auch tun, Emma war auf alles gefasst. Möglichst kühl dachte sie über die Einnahme der Tabletten nach, die sie erlösen würde. Aber noch ging es ja.

Emma hatte alles vorbereitet. Ganz vorne im Regal lag offen eine Verfügung und der Vertrag mit dem Beerdigungsinstitut, den sie abgeschlossen hatte. Sie hatte eine Grabstelle neben Reinhards gekauft, obwohl das eigentlich eine lächerliche Sentimentalität war. Sie glaubte nicht an ein Leben nach dem Tod.

Sie war ganz ruhig, ging in die Stube, strich leicht mit den Fingern über die Tasten des Klaviers.

Alles ist vergänglich, hatte sie zu Paul Brandner gesagt, als er sie nach dem Geheimnis ihrer Heiterkeit gefragt hatte.

Davon nahm sie nichts aus. Auch nicht ihre Erinnerungen. Alles war der Vergessenheit anheim gegeben. Ihre große Liebe zu Reinhard würde nach dem Tod nicht weiter bestehen. Kein Buch würde über sie geschrieben werden, und selbst das wäre in dieser Flut von Meldungen keine Garantie mehr gegen das Vergessen. Jegliche Trauer war eigentlich vergeblich. Eines Tages würde die Menschheit aussterben, die Erde unbewohnbar werden, die Sonne verglühen, das gesamte Universum zerplatzen wie ein Luftballon und nichts davon übrig bleiben.

Menschen streben nach Reichtum und Glück, der Spieler in dem Buch, dass sie gerade ausgelesen hatte, strebte nach Gewinn und als er ihn tatsächlich errang, konnte er damit nichts anfangen. Nur das Spiel wurde zur Sucht … wie die ganze Menschheit getrieben ist, sich empor zu entwickeln und das Leben der Einzelnen immer armseliger wird. Weiter, weiter, höher, höher, reicher, reicher … nein, Emma war nicht zu Hause in dieser Welt.

Sie hatte eigentlich auch nie Reinhard verstanden, der von einem demokratischen Sozialismus schwärmte, der Dostojewski las und im Wahnsinn religiös wurde, weil er meinte, ein Christus zu sein. In der Anstalt hatte er nur noch wirres Zeug geredet und sich am Ende aufgehängt. Die Teufel in den Menschenseelen haben zu allen Zeiten gesiegt.

Einmal sah sie im Kino einen Film über Rosa Luxemburg, die auch so eine Weltverbesserin war. Ihre Mörder lebten unbehelligt bis in unsere Zeit weiter in Deutschland, das sich rühmt nun endlich demokratisch und gerecht zu sein. Die rote Rosa – oder die blutige Rosa – nannten sie die Frau. In dem Film, sah sie in einer Szene ein Vögelchen auf dem Sims ihres Kerkerfensters sitzen und sagte sich still, eigentlich ist da meine Heimat bei dem kleinen Vogel.

Ja, so fühlte sich Emma auch.

Sie wollte nichts Großartiges sein, sie war eine kleine alte und unauffällige Frau, die auf sich achtete und alles in Ordnung hielt.

Vielleicht verstand sie jetzt im Alter am besten ihren Vater, den traurigen Mann, der im Krieg gewesen und gesagt hatte, er hätte Dinge gesehen, von denen er ihr nie erzählen könnte.

Und sie wusste, das war der Schrecken eines eigentlich rechtschaffenen Mannes, der in den Krieg ziehen musste und später am gebrochenen Herzen starb.

Auch von Herrn Carsten hatte sie erst durch Paul Brandner erfahren, dass er im KZ gewesen war, nein, davon redete er später als sie ihn kennen lernte, nicht mehr. Er wollte den angeblich kleinen Leuten helfen, die in die Klauen der Mächtigen gerieten.

Emma war wie eine späte Tochter für ihn.

Sie ging zum Bücherregal und wählte sich ein neues Buch aus. „Die gute Erde“, den Roman eines Bauern in China. Sie hatte es einst in jungen Jahren gelesen und in guter Erinnerung, es noch einmal lesen zu wollen.

Draußen begann es zu regnen. Sie schaltete die Stehlampe an und schlug das Buch auf, um in eine andere Welt einzutauchen … Emma lächelte, der Schmerz im Bauch ließ nach.

Emma glitt in die Worte und Sätze der Autorin wie in ein warmes Bad, sie ließ sich vom Zauber der Sprache tragen wie von einer Schaukel. Es kam gar nicht auf den Inhalt an, der Klang der Worte entstand in ihr wie Musik. Die Geschichte aus dem alten China hatte eine Ruhe und eine Weisheit wie sie große Sagen haben, eine Menschheitssaga, fast in der Sprache der Bibel, die ja auch eine Menschheitssaga war.

Sie fühlte sich wohl beim Lesen und vergaß selbst, dass sie eine alte Frau war, bereit das Leben loszulassen. Sie steckte schon nach wenigen Seiten drin in ein anderes Leben, das Leben eines chinesischen Bauern.

Lesen war für sie die beste Medizin, ach was, es war ihr Sinn … am Leben zu sein.

Lesen Sie das nicht, wenn Sie weiterhin die AfD wählen möchten:

Warum nicht?

Weil ich mir niemand vorstellen kann, der so ein dicken Fell hat, es weiterhin zu tun 🙂

Räusper, es sein denn, Sie sind ein Malermeister und rhetorisch unterbelichtet.

Dann aber, halten Sie zur Fahne, man hat ja sonst nichts mehr zu bestellen.

https://live.vodafone.de/news/inland/der-elefant-im-raum-afd-ohne-spitzenkandidat/12613971