Wie viel?

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Der Mann sagt deutliche Worte.

Mit schneidender Logik entlarvt er die Verlogenheit der Frau. Sie nimmt ihr Kätzchen in den Arm und weint ein wenig.

Mit Worten wäre sie ihm sowieso nicht gewachsen. Brennende Kerzen stehen auf dem Tisch, in den Gläsern funkelt der Wein, und aus der Musikanlage klingt ein heiterer Mozart.

Er wartet ein wenig, um ihr noch eine Chance zu geben. Aber sie schweigt. Genau genommen wartet er nun nur noch auf seine Chance, um ihr zu beweisen, dass sie keine hat. Doch sie schweigt.

Und weint ins Katzenfell. Selbst die Katze weicht seinem Blick aus.

Da steht der Mann auf, und sein Stuhl fällt um. Natürlich bückt er sich nicht. Er ist im Recht.

„Okay“, sagt er, „dann schweigen wir eben, ich gehe.“

Wenig später verlässt er das warme gemütliche Heim. Draußen peitscht der Regen den Mann, der seinen Kragen hoch schlägt, die Hände in die Taschen steckt und in die Kneipe geht.

Dort sind die Männer unter sich und zischen ihre Biere.

Er trifft einen Freund.

„Alles klar?“ fragt er.

„Nichts ist klar“, sagt der Mann, „meine Frau spinnt.“

„Was ist los?“

„Sie hat das Konto überzogen, sich ein teures Kleid gekauft, teure Schuhe und rote Unterwäsche.“

„O Mann“, sagt der Freund.

„Ja“, sagt der Mann, „so ist das.“

„Meine Frau spinnt auch“, sagt der Freund.

Und sie betrinken sich.

Arm in Arm wanken sie aus der Kneipe, und es regnet immer noch.

„Werde nicht weich“, sagt der Freund zum Abschied.

„Du auch nicht“, sagt der Mann.

Als er die Wohnung betritt, sind die Kerzen erloschen, das neue Kleid hängt über eine Stuhllehne, die neuen Schuhe stehen auf der Sitzfläche, und die rote Unterwäsche liegt daneben.

Die Frau ruht im Bett, seiner Seite den Rücken zugewendet.

Schwankend zieht er sich aus und fällt ins Bett. Die Nachttischlampe beleuchtet den Rücken der Frau. (Nichts kann schweigsamer sein, als der Rücken einer Frau im Bett.)

„Schläfst du?“ fragt der Mann.

Nichts.

„Es tut mir leid“, sagt der Mann.

Nichts.

„Ich werde Überstunden machen, dann kannst du das Kleid und die Schuhe und die Unterwäsche behalten“, sagt der Mann.

Vorsichtig legt er seine Hand auf ihre Schultern und rückt ein wenig näher. Er flüstert in ihr Ohr. „Verzeihst du mir?“

Die Frau dreht sich um und stößt den Mann von sich, ihre Augen sprühen Blitze.

„Ich will diese Sachen nicht mehr, du kannst sie zurück ins Geschäft bringen, und komme mir nicht zu nahe, hörst du, du stinkst nach Fusel!“

Der Mann fällt zurück auf den Rücken, er schaltet die Nachttischlampe aus. Es ist stockfinster.

„Und wenn ich dir noch eine Kette kaufe zur Versöhnung?“

Seine Stimme hallt in der Dunkelheit.

Einige Minuten später fühlt er die Hand der Frau. Es ist ganz still. Sie rückt näher an ihn heran. Er macht sich steif. Sie pustet in sein Ohr.

„Eine goldene Kette?“ flüstert sie fragend und kichert ein wenig.

Der Mann stöhnt.

„Von mir aus eine goldene…“

In der gleichen Zeit spricht sein Freund mit einer Hure.

„Wie viel?“ fragt er.

„Nicht so viel, wie zu Hause“, sagt die Hure und lacht.

Katajew

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Bei Kamenke am Samstag

Kamenke ist ein unerschrockenes Segelschiff in stürmischer See. Eine Barke mit einem roten Segel, die vom Sturm hin und her geworfen wird und auf den Schaumkronen tanzt, aber ihren Kurs hält.

Kamenke ist der Name einer Kneipe, und so heißt auch der Besitzer.

Er ist ein Motorradfreak, der in die Jahre kam. Seine Haare trägt er immer noch so glatt rasiert mit einem Kamm wie ein Punk, obwohl Punks längst aus der Mode sind. Die langen Spitzen des Kamms sind schwarz gefärbt und ragen vom Gel gestärkt mindestens zehn Zentimeter in die Höhe wie die Zacken eines Barsches, eines Zackenbarsches.

Kamenke ist fett, er hat den Bauch in Birnenform, die soll übrigens gesunder sein als die Apfelform, habe ich neulich irgendwo gelesen. Sein schwarzes T-Shirt spannt über die Ausbeulung der Birne, auf der eher etwas schmalen Brust glänzt auf dem schwarzen Stoff natürlich ein weißer Totenkopf mit gekreuzten Knochen. Die übrige Kleidung besteht aus schwarzem Leder mit silbernen Nieten übersät, an den Füßen entdecke ich schwere und klotzige Schuhe, die man früher in der DDR als Arbeitsschuhe trug.

Kamenke stützt sich auf der Theke seiner eigenen Kneipe auf, die Jacke und das T-Shirt rutschen nach oben, weil sie dem physikalischen Gesetz des leichteren Weges folgen. So wird sein weißer Bauch sichtbar und auch sein Rücken. Die Hose unterliegt auch der Physik und rutscht etwas nach unten, dass man erkennt, Kamenke hat einen behaarten Hintern.

Neuerdings erscheint Kamenke nur kurz in seiner eigenen Kneipe. Und warum ist seine Kneipe ein unerschrockenes Segelschiff? Sie hatte ein Jahr nach der Wende geöffnet und besteht immer noch, weil sie den Kurs hält durch die Stürme der Zeit.

Außerdem war sie die führende Kraft Berlins im Kampf gegen den Nichtraucherschutz. Auf jeden Tisch lag damals ein Blatt mit Unterschriften, und Kamenke wurde sogar im Fernsehen interviewt, als er gerade ein Bier zapfte.

Nun der Kampf ist verloren inzwischen, wenigstens teilweise. Es existiert immerhin ein größerer Raucherraum.

In der Thekenwand sieht man ein Foto von der Eröffnung. Kamenke ist zu sehen und die rothaarige Agnes, sie sind da rank und schlank, und der Kamm auf Kamenkes Kopf ist auch rot, natürlich gefärbt. Agnes hat rote Haare von Natur aus. Beide waren damals ein Paar.

Inzwischen rollte die Zeit in unendlichen Wellen ans Land, und Kamenke und Agnes sind längst auseinander. Sie ist heute auch hier zum Bier trinken mit ihrem Ehemann, dem Vater ihres Kindes. Ja, Agnes hat das Glück einer späten Mutter empfangen, und ihr Gesicht strahlt noch beseelter als früher, die Haare sind immer noch lang und rot und wellig. Sie sitzen zwei Tische hinter mir, und

sie erschien an meinem Tisch als ich mich setzte und begrüßte mich freudestrahlend.

(Jetzt bewege ich mich in die vergangene Stunde…)

„Da hat sich jemand nach dir erkundigt“, sagte sie und umarmte mich.

„Wer“, hatte ich gefragt.

„Ich habe der Frau deine Internetadresse der Literaturseite gezeigt, sie möchte dich unbedingt kennen lernen.“

„Es war ein Fehler, dass ich dir einst davon erzählte“, sagte ich, „aber ich war betrunken.“

Agnes stieß mich an die Schulter und sagte, „ach, du alter Brummbär.“

Später, als Kamenke erschien, begrüßte er mich mit Handschlag, „jemand will dich kennen lernen, sagte er, du musst mal Agnes fragen.“

„Ja, ich hörte es schon“, antwortete ich.

„Was schreibst du gerade?“ fragte Kamenke.

„Ich weiß nicht, irgend was…“

Er lachte, „bis nachher, Alter.“

„Ja“, sagte ich, wohl wissend, es gibt kein Nachher.

Was mich frei macht, ist, dass ich schon vor Monaten meine Internetseite gelöscht habe und zwar vollständig.

(Jetzt befinde ich mich wieder gegenwärtig)

Heute am Samstag ist es voll. Irina aus der Ukraine, die wie ein lächelnder Engel die Getränke verteilt, hat mir gerade das zweite Guinness gebracht.

Die Tische an der Wandseite haben alte Bänke aus den Zeiten der DDR, es sind Holzbänke der damaligen S-Bahn. Ich habe einen Tisch allein, ein Privileg und lege ein Bein hoch. Hinter mir doziert jemand.

„So“, sagt er, „wenn wir diesen Punkt geklärt haben, befinden wir uns auf eine Basis, von der wir uns weiter bewegen können.“

Ich drehe mich um. Mir den Rücken zugewendet hat ein Mädchen, welches sich über ein Blatt Papier beugt und Notizen macht. Der Dozierende ist ein junger Mann von vielleicht achtzehn Jahren, der das bedeutungsvolle Gesicht eines alten Professors aufgesetzt hat.

„Das habe ich verstanden“, sagt das Mädchen.

„Wir brauchen immer eine Prämisse, von der wir ausgehen können“, doziert der junge Professor.

Er schaut so von unten, als wolle er mit seinem Blick die eigene Stirn durchstoßen, die Denkerstirn.

Beide trinken Gin in Zitronenwasser mit Eis und einem Strohhalm im Glas, er hat einen roten und das Mädchen einen blauen.

Ich drehe mich zum meinem Tisch zurück und trinke einen großen Schluck Guinness. Es ist Zeit für die Pfeife.

An der Theke steht eine Traube Menschen, vier hoch gewachsene Männer Mitte dreißig, und eine mollige Blondine. Die Männer tragen alle halblange dunkle Mäntel aus Filz mit Schulterstücken, früher nannten wir diese Dinger Joppen. Sie geben sich sehr ernsthaft und unterhalten sich mit einer gewissen Lässigkeit, wie Polarforscher von den Anstrengungen der letzten Expedition. Sie sind natürlich nur auf einen Sprung hier, nachher werden sie gemeinsam die nächste Bar aufsuchen.

Die Tische an der Fensterseite sind alle voll.

Irina hat viel zu tun, aber ihr Lächeln sagt, ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen.

In der Ecke sitzen zwei junge Frauen, die schon viel zu lang Religionswissenschaften studieren. Sie trinken Weizenbier, unterhalten sich angeregt und würdigen den jungen Männer keinen Blick. Am liebsten wären sie lesbisch. Sie sind aber nicht lesbisch, sie haben nur noch keinen abbekommen.

Davor sitzt an dem Tisch ein Liebespaar. Die erste halbe Stunde haben sie sich die Zeit vertrieben, indem sie sich an den Händen hielten und tief in die Augen blickten. Der Mann hat sein Bier sehr gierig getrunken, er ist ausgetrocknet von der langen Nacht, in der sie kein Auge zugemacht hatten.

Jetzt spielen sie Schach, immer noch am Händchen haltend. Ich kann von hier aus erkennen, dass er mit dem Schäferzug beginnt, ein sehr dummer Anfängerzug. Sein Mädchen schaut angestrengt auf das Schachbrett. Einst hatte sein Großvater ihm erklärt, wie man auf diesem Zug antwortet. Aber es hat es vergessen wegen der schlaflosen Nacht. Und schon tappt es in die Falle.

Der Mann lacht, und das Mädchen schmeißt ärgerlich die Figuren um und entzieht ihm das Händchen.

Irina bringt ihnen eine neue Lage Bier und sagt etwas, was das Mädchen zum Lachen bringt.

Die mollige Blondine gesellt sich zu Kamenke und umarmt ihn und küsst sein Ohr.

Agnes schaut von hinten zu und lacht. Der Bauch der Blondinen reibt sich an dem Bauch von Kamenke.

Die vier Polarforscher verlassen die Kneipe. Von hinten bringen Junge Leute Billardkugeln und die Spielstöcke, die Queues heißen. Irina kassiert ab.

„Jeder Beweis ist eine Kette von Schlussfolgerungen“, doziert hinter mit der Professor.

„ Ja“, sagt das Mädchen, „wie du das wieder gesagt hast.“

Kamenke verlässt Arm in Arm mit der Blondinen sein Lokal. Ich bestelle ein Guinness bei Irina.

„Das ist aber schon das vierte“, sagt sie und runzelt ein wenig streng die Stirn.

„Ja“, sage ich, „das letzte.“

„Was schreibt du gerade?“ fragt Irina und lächelt mütterlich, als sie das Bier bringt.

„Ich schreibe über einen alten Mann in Odessa, der ein junges Mädchen liebt“, sage ich und grinse.

„Ach“, Irina stupst mich an die Schulter, „du machst wieder Spaß.“

„Doch“, sage ich, „am Abend streicht ein herrenlosen Hund am Kai des Hafens entlang, am schwarzen Meer, und der alte Mann ist allein und hat Sehnsucht nach seiner toten Liebe. Der Hund heißt Katajew.“

Irina bekommt feuchte Augen vor Heimweh.

Ich zahle und gebe ihr einen Euro Trinkgeld.

„Das ist zu viel“, sagt sie.

Ich bin betrunken und sage, „nein.“

„Eine Frau wollte dich kennen lernen“, sagt Irina.

„Ja“, antworte ich und klopfe die Pfeife aus.

Auf den Heimweg ist die Straße menschenleer. Ich stecke die Hände in die Hosentaschen und pfeife in die Nacht. Am Himmel funkeln die Sterne wie in Odessa.

Aber es ist kalt

Irgendwo kläfft Katajew.

Regen

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Der Tag lächelt seinen müden und gelangweilten Gruß Regen verhangen durch das Fenster, das ich mich ernsthaft frage, ob es sich lohnt aufzustehen und zurück zu grüßen.

Im Radio singen irgend welche Toten Operetten. So kommt die gute Laune herrlich morbide in die Wohnung.

Ich lese eine ärgerliche Mail.

Meine ehemalige Untermieterin beschimpft mich, dass ich sie dem Hungertod überlasse. Sie hat ganz vergessen, dass sie mit dem Messer auf mich losging. Soll sie doch nicht saufen und sich lieber Essen kaufen.

Was weiß sie schon vom Hungertod, mag sie nach Afrika fliegen und dort sich mal umschauen oder auch in die Vergangenheit in Stalins Land. Merde.

Bin ich deswegen ein Unmensch?

In was, sagte die Frau neulich im Fernsehen, in was für eine Zeit leben wir eigentlich?

Es regiert über allem die Häme.

Werte, die auch für die Zukunft gelten könnten, lösen sich auf wie Seifenblasen der Kinder. Sie waren schön bunt, aber sind nun zerplatzt zur klebrigen Suppe geworden. Da muss man sie wohl abwaschen.

Alles verläuft nach Mustern, die Menschen in ihrer großen Zahl sind die graue Masse, einige wenige leben als Prominente und setzen sich in diesem Spiel der Häme aus. Als Werte und gleichzeitig als Belohnung für das sich Aussetzen der Häme gelten allenfalls ein recht zweifelhafter Reichtum und Wohlstand.

Politiker werden verachtet, statt verehrt – und dann doch wieder gewählt.

Neid wird zur obersten Tugend, wenn er vereint zum Ausdruck kommt. Die Öffentlichkeit und Meinungen werden durch die Medien bedient und sie steuern solche negativen Bedürfnisse, um sich an einem Spiel zu beteiligen, dass inzwischen längst eine Perversion aus alter Moral geworden ist.

Bindungen und Verhältnisse zerbrechen, weil dieses Miesmachen, das Übelnehmen zu echten Charakterzügen auch im Privaten geworden ist. Und so macht der eine den anderen fertig als herrsche ein Krieg in den Seelen.

Die Menschen verlieren den Respekt voreinander als wäre dieser nur eine unnötige Fessel im Umgang miteinander. War das schon immer so?

Schon Konfuzius klagte über den Verlust des Repsekts, der in den Familien zu beginnen habe. Vor tausenden Jahren!

In einem Buch von Ismail Kadare „Die Dämmerung der Steppengötter“ lese ich, dass in Moskau der Jahre unter Chrustschow abends Hooligans betrunken durch diese Stadt des Trübsals strichen wie Wölfe. Tauchten Passaanten auf, wuchsen sie wie Geister aus der Dunkelheit und gaben ihnen Ohrfeigen, zwischen den eigenen Fingern hatten sie Rasierklingen geklemmt. Viele Leute liefen mit blutenden Wangen heimwärts durch den Regen und später sah man die Leute mit vernarbten Gesichtern in der Stadt oder im GUM am Roten Platz. Trostlos war es damals, einer traute dem anderen nicht über den Weg.

Nein, besser war die Welt nie. Soll man über sie noch schreiben?

Über Stalins Land beispielsweise?

Ich weiß nicht und halte inne. So viele Schriftsteller lebten in Moskau, abends betranken sie sich und weinten um ihre ungeschriebenen Bücher… Da ist nichts nachzuholen. Oder doch?

Wenn ich über das Leben, die Welt und die Zeit nachdenke, entwickle ich aus meinen Erfahrungen mit Menschen heraus bestimmte Gedanken. Wenn ich diese Gedanken verdeutlichen möchte, werden meine Erfahrungen und die Menschen typisch. Ich schreibe es auf, um die Gedanken zu veranschaulichen.

Beim Schreiben verändere ich die Wirklichkeiten, aus der ich komme.

Kleinbürger, deren Lebenssinn das Tratschen und die Häme geworden ist, interessieren sich nicht für Gedanken. Sie finden sich selbst wieder, wo sie doch zu Typen geworden sind – und nehmen übel. Ich bin müde mich andauernd rechtfertigen zu müssen. Dich habe ich doch gar nicht gemeint, so profan real, Dummkopf.

Typische Charaktere entstehen in typischen Verhältnissen, schrieb schon Engels.

Das führt zu einer Verallgemeinerung und Verkürzung.

Der Künstler, der zeigen möchte, dass jemand eine lange Nase hast, zeichnet sie noch ein wenig länger, so entstehen Karikaturen. Genau genommen ist jede Kunst eine Karikatur der Wirklichkeit. Nie kann ein Buch das wahre Leben schildern. Aber eine höhere Wahrheit entstehen lassen, welche die Augen öffnet.

Wenn ich jemand lobe, lüge ich, aber werde geliebt.

Wenn ich jemand kritisiere, lüge ich auch, aber werde gehasst.

Jeder Mensch hat aber gute und schlechte Seiten. Um der Wahrheit nahe zu kommen, die man zwar nie völlig erreicht, muss man das Gute und das Schlechte zeigen.

Das ist die Mühe, die einsam macht.

Doch, so lese ich, wenn man das Wasser im Brunnen nicht berührt und still hält, wird es plötzlich klar und man erkennt sein eigenes Spiegelbild. Die Ruhe und Besinnung ist notwendig.

Ich stehe auf und gehe ans Fenster und schaue in den trüben Tag.

Ein Mann sagte, wir leben in solch einer wirren Zeit, weil wir den Tod nicht akzeptieren. Wenn wir genau hinhören, erzählen uns die Toten etwas, sagte er noch dazu.

Tatsächlich, die Sänger im Radio klingen sehr vergnügt und lebensfroh. Und sie sind schon längst verstorben.

Wenn die Kommunisten atheistisch waren aus Überzeugung, warum errichteten sie für Lenin und Stalin ein Mausoleum? Und dann entfernte sie den toten Stalin, als wenn es ihn noch ärgern könnte und begruben ihn an der Kremlmauer. Wie soll man sie ernst nehmen?

Niemand hat sie ernst genommen, niemand hat sie geachtet, aber fast alle haben sie gefürchtet.

Wenn meine Nachfahren einst von mir lesen sollten, können sie sich mit mir unterhalten.

Wenn ich die Gedanken eines Menschen lese, denke ich mit seinem Gehirn. Vielleicht lacht dann noch einer über den toten Lenin im Mauseleum. Lenin hatte auf seinem Schreibtisch eine Figur aus Messing, die war dem Denker von Rodin nachgebildet. Nur auf dem Schreibtisch saß ein Affe, den Arm aufs Knie gestützt und den Kopf in die Handfläche gelegt.

Hatte Lenin Humor?

Es kommt auf die Gedanken an. Die ursprünglich realen Figuren werden zu Noten auf einem Blatt Papier für die Musik.

Auch der Regen ist schön.

Das Telefon klingelte. Der Rechtsanwalt sagte, wir versuchen das Vermächtnis der Toten zu erfüllen. Damals, ich hatte ihm abgesagt und resigniert.

Ja. So war das.

Auch wenn es regnet, muss man aufstehen.

Männer halt

 

Jonas freute sich, wenn Bernd nach seiner Arbeit auf ein Bier kam. Bernd kann gut Geschichten von seinen Patienten erzählen, er ist Therapeut, spezialisiert auf Massagen.

Meist grinste er wie heute, wenn er Jonas sieht. Er kannte seinen Hunger nach guten Geschichten, natürlich, sie sind immer äußerst vertraulich zu behandeln.

He, alles klar, Alter?“ Er setze sich gegenüber, das Bier hatte er sich schon am Tresen von Svenja geholt, Kamenke stellte andauernd junge Russinnen ein, die nach einer Weile wieder verschwanden, weil sie Theologie in Leipzig studieren wollten. Gerüchteweise waren sie aber auch als Prostituierte im Westteil tätig, Bernd wusste mehr darüber, aber das war nicht nur vertraulich, sondern sehr vertraulich.

Und?“ fragte Jonas.

Wie alt bist du eigentlich?“ fragte Bernd.

Fünfundsechzig.“

Bernd lachte.

Das könnte hinhauen.“

Sein Lachen war wie immer ansteckend.

Also los, erzähl…“

Er hatte eine neue Patientin.

Sie ist Studentin, aber steht kurz vor dem Abschluss. Ich denke, sie ist sehr ehrgeizig und wird noch eine Doktorarbeit schreiben, und zwar vor dem Diplom, damit dann alles schnell geht. Während der Therapie sprach sie nur über Frauenrechte, trotzdem sehr locker und engagiert. Sie ist eine Frau, die weiß, was sie will.

Deshalb war ich überrascht, dass sie heute zu einem Termin erschien und ein Baby mitbrachte, wir stellten den Kinderwagen neben ihre Liege. Das war sehr lustig, das Kind schlief, und sie ließ sich den Nacken massieren.

Ja, ich habe das jetzt mit dem Baby erledigt, erklärte sie mir mit geschlossen Augen, wenn später mein Job beginnt, kann ich mir keine Auszeit erlauben.

Aber ein Kind muss schon sein.“

Sie tranken erst mal und prosteten sich zu. Jonas war ganz Ohr.

Ich fragte nach dem Vater, schließlich wollte ich wissen, wie er dazu steht.

Einen Vater gibt es nicht, sagte sie.“

Wie?“ Jonas lachte.

Bernd wischte sich mit dem Handrücken über den feuchten Mund, grinsend.

Sie riss belustigt die Augen auf. ‚Wir brauchen keinen Vater, wir brauchten nur einen Erzeuger‘.“

Da lachten sie beide, Jonas und Bernd.

Sie erzählte mir sogar von dem Erzeuger. Er ist ein älterer Mann, sehr klug und belesen, der in einem Szenecafé oft anzutreffen ist. Sie machte mit ihm ein Arrangement wegen der Zeugung:

Er braucht natürlich keine Alimente zu zahlen, darf aber keinen Kontakt mit dem Kind suchen.“

Oha“, sagte Jonas, er war ein wenig blass geworden und griff schnell zum Bierglas, „der arme alte Mann, da gelang es ihm noch mal ein Kind zu zeugen, und er kann es nicht genießen.“

Bernd, der selbst junger Vater ist, beteuerte:

Das ist nicht immer ein Genuss.“

Jonas sann vor sich hin. Dann sagte er:

„Erzähl weiter.“

Und dann erzählte sie mir eine Begebenheit, die lustig war“, meinte Bernd, ohne scheinbar auf Jonas zu achten.“

Neben dem Szenecafé befindet sich ein großer Kinderspielplatz. Sie ist der Ansicht, dass es dem Baby gut tut, dort im Wagen zu sitzen und spielende Kinder zu beobachten, für den Sandkasten selbst ist es noch zu klein, außerdem ist da zu viel Schmutz.

Sie selbst könne dort wunderbar in ihren Lehrbüchern lesen, Soziologie und Geschichte, die Rolle der Frau in den letzten Jahrhunderten, so was halt…“

Bernd beugte sich etwas vor:

Und neulich eben ging sie mit dem Wagen heim, das Baby saß vergnügt darin, einen Nuckel im Mund.

Vor dem Szenecafé saß aber der alte Mann, der Erzeuger, trank einen Gin mit Tonic, entspannt in der Abendsonne, und sie fuhr an ihm vorbei, er schaute.“

Und dann?“ fragte Jonas mit tonloser Stimme.

Das Baby schaute auch, sagte sie, die beiden schauten sich direkt an.“

Und?“

Auf einmal juchzte das Baby und warf den Nuckel in seine Richtung, als würde es ihn…“

Erkennen?“

Bernd fuhr ungerührt fort.

Der Alte machte doch Anstalten aufzustehen und den Nuckel aufzuheben…“

Jonas war fasziniert.

Was geschah dann?“

Na ja, sie war schneller, sie habe ihn mit einem Blick verwiesen, sich zurück zu halten und sich besser seinem Gin zu widmen. Und den Nuckel selbst aufgehoben, das Kind ist ja noch ganz unschuldig. Außerdem habe sie immer einen nassen Lappen in einer Plastiktüte dabei, um den Nuckel zu säubern.“

Jonas und Bernd lachten.

Männer halt.

Bernd stand auf, „Ich muss los“, er bezahlte bei Svenja, die völlig ungerührt zugehört hatte.

Beim Hinausgehen sagte Bernd:

Das Baby ist ein Junge…“

Jonas war allein mit Svenja.

Habe noch Wunsch?“ fragte sie.

Jonas überlegte:

Bringe mir noch einen Gin Tonic.“

Eine halbe Stunde später ging Jonas ebenfalls auf die Straße, nebenan lärmten die Kinder auf dem Spielplatz – und hatte auf einmal das Gefühl, er erlebe eine Sonnenfinsternis.

So großartig war das.

(Oktober 2016)

 

 

Mein Tag

 

Es bleibt still. Sie schaltet kein Radio an. Und geht in der stillen Wohnung umher wie ihr eigener Schatten. Draußen ist es den ganzen Tag über nicht hell geworden. Das Jahr ist vorbei wie ein Leben, denkt sie und lächelt mit einer gewissen Melancholie, das Gefühl der Unsterblichen, wie sie neulich las.

Sie geht zum Weinregal und sucht sich einen schweren Roten aus, mit einem Hauch von Süße. Restsüße, denkt sie, das ist ein gutes Wort und spricht es laut aus, um es zu kosten.

„Restsüße“. Irgendwann werden wir alle zu einer Restsüße.

Der Wein gluckert in die Stille, als wolle er freundlich anklopfen, während sie eingießt.

Sie könnte den Computer einschalten und nachschauen, ob eine Mail von ihm drin ist. Aber die ist nicht drin. Das weiß sie auch so, warum sich mit unnützen Hoffnungen quälen.

Sie sitzt ganz gerade, während sie trinkt. Sie trinkt einen winzigen Schluck mit spitzen Lippen.

Er hat eine Jüngere getroffen und sich Hals über Kopf verliebt.

Das ist nun mal so, denkt sie, das war zu erwarten.

Sie ist eine Frau, die siebzig Jahre alt ist. Und sie hatte zehn Jahre lang einen jüngeren Geliebten.

Er ist fünfundsechzig. Das war wie ein Lottogewinn, der nun mal leider aufgebraucht ist. Sie bereut keinen Tag der zehn Jahre.

Ihr erster Gedanke war, ob das so eine Art Rache von ihm sein sollte, eine Rache für die entbehrungsreichen Jahre mit einer älteren Frau.

Darum fragte sie:

„Wie viel Jahre jünger ist sie?“

Er hatte sofort geantwortet am Telefon:

„Zwanzig.“ Er ist ein Mann und ehrlich, jedenfalls zu ihr. Sie quittiert das auch als eine Art Respekt.

Zwanzig Jahre.

Sie war verblüfft und dachte, Rache kann das nicht sein.

„Aber es ist Liebe“, hatte er noch so nachgeschoben, ganz klar, hoffend auf ihr Verständnis.

Sie blieb cool.

„Zwanzig Jahre jünger als ich oder als du?“

„Als ich, aber das ist doch auch egal. Es ist Liebe, und nur das zählt.“

Sie tat so, als überlege sie.

Dann sagte sie:

„Das stimmt.“

Das war vor einem Monat.

Jetzt stützt sie die Hände auf die Knie und sitzt weiterhin gerade, wie eine Kerze, sagt man, denkt sie und lächelt über sich selbst. Haltung bewahren. Wie wir Menschen aus Posen bestehen.

Als das Telefon klingelt, steht sie doch ein wenig zu schnell auf.

„Ja?“

„O mein Gott, o mein Gott“, hört sie seine Stimme.

„Was ist denn los?“

„Sie ist weg, ich bin allein“, sie hört ihn schluchzen. Wie ein kleiner Junge, dem man das Spielzeug weggenommen, denkt sie.

„Ist es denn aus?“ fragt sie.

Er schweigt und schnäuzt sich dann geräuschvoll die Nase.

Auf einmal sagt er mit einer kalten Stimme.

„Es wird nie aus sein.“

„Dann musst du leiden“, sagt sie.

„Leiden?“

„Ja“, sagt sie, „mach was draus. Zur Liebe gehört nun mal das Leid.“

Er räuspert sich. Sie wartet.

„Ich melde mich dann“, sagt er und legt auf.

Sie geht zurück zur Couch und trinkt wieder einen winzigen Schluck Wein mit Restsüße.

Auf einmal wird ihr bewusst, dass ihr letzter Satz, zur Liebe gehöre das Leid, aus ihr gesprochen hat wie eine innere Stimme, und dass dieser Satz auch ihr selbst gilt.

Nein, sie leidet nicht, weil sie ihn nie wirklich geliebt hat, sie hat ihn gemocht, und zwar sehr, aber nicht geliebt, und das war gut, und darum ist es jetzt gut so.

Als er die junge Frau kennen gelernt hatte, das war wohl vor drei Monaten, sagte er:

„Weißt du, was sie gesagt hat?“ Seine Stimme bebte vor Rührung.

„Was denn?“

„Bevor wir uns küssen, sollten wir uns duzen.“

Sie hatte geschwiegen und dachte, das sagen sie alle. Und dachte, ach du Dummerchen.

Und jetzt ist sie eine Frau mit siebzig Jahren und wird für immer allein sein.

Das Telefon klingelt schon wieder. Sie geht nicht ran.

Neulich schrieb einer im Internet, er mag so die Gespräche mit siebzigjährigen Damen, denen könne man alles sagen.

Sie ist noch nicht ganz so weit, denkt sie und lächelt schmal in die stille, dunkle Wohnung wie eine Nadel, die piekst, ins Nichts, sie ist noch nicht so weit, jedem auch zuzuhören.

Es klingelt schon wieder.

„Mein Gott, siebzig Jahre“, sagt sie laut in die Stille hinein.

Dann entspannt sie sich, der Wein scheint zu wirken. Sie betrachtet sehr intensiv den kleinen Glasschrank. Das ist alles, was ihr von ihrer Ehe geblieben. Ihr Mann hatte den höchstpersönlich selbst gebaut. Sie lächelt jetzt bitter. Er sieht aus wie antik, wenigstens dieser Schrank war gelungen.

Sie weiß noch nicht einmal, ob ihr Mann noch lebt, er müsste jetzt zweiundsiebzig sein.

Er war wie ein Tier. Dieser Gedankensatz in ihr ist ein Schrei, den niemand auch noch hören soll.

Sie weiß, dass jede Frau Dinge im Leben hat, die sie irgendwann mit sich selbst ausmachen muss und nicht in die Welt hinaus posaunen. Vielleicht geht es auch Männern so. Die sind ja angeblich besonders schweigsam.

Sie seufzt. Wenn sie heute von der Diskussion hört über Vergewaltigung, die auch in einer Ehe passieren können, dann weiß sie es schon lange.

Als sie vor achtzehn Jahren so verletzt war, dass sie einen Arzt aufsuchen musste, hatte er ein langes Gespräch mit ihr, das der Auslöser war, dass sie sich drei Jahre später endlich scheiden ließ.

Ich wollte, der Kerl wäre heute tot, denkt sie, ich habe sogar seinen Namen vergessen, nur den Glasschrank habe ich noch.

Jetzt lächelt sie unter Tränen und trinkt einen Schluck Wein.

Zum Glück war ihr klar, dass auch der Arzt ein Mann ist, und dass nicht alle Männer gleich sind, sonst wäre sie wohl eine verbiesterte Emanze voller Hass geworden.

Thomas, ihren Geliebter, hatte sie vor zwölf Jahren kennen gelernt, sie war achtundfünfzig, und er war dreiundfünfzig, er war ein Kavalier wie aus alten Zeiten. Er war sanft, immer freundlich, sehr gebildet, bis zum Schluss war er so. Sie zogen zusammen und lebten wie Mann und Frau. Ja, aber sie hatte ihn nicht geliebt, sie hatte ihn gemocht, vielleicht ist das sogar mehr, und jetzt leidet sie nicht.

Vor zwei Monaten ist er ausgezogen, und er hat eine Frau gefunden, die ist zwanzig Jahre jünger als er und hat zwei kleine Kinder, er hat sie gerade angerufen, die Frau ist weg.

Mein Gott, sie steht auf und geht ans Fenster, sie stützt sich ein wenig an den Glasschrank ab.

Dann lacht sie plötzlich auf.

Vielleicht muss die Neue bloß mal nach den Kindern schauen, armer Thomas, du wirst mit dreiundsechzig Jahren auf den Spielplatz gehen müssen und alle Leute werden komisch gucken.

Der gehässige Gedanke macht ihr etwas Freude.

Nein, das ist nicht Ordnung, denkt sie, ich wünsche ihm ja alles Gute, bei mir gab ’s nur die Enkel ab und an, um die er sich sehr bemüht hat. Er hat ja keine eigenen Kinder.

Warum soll ich ihm das nicht gönnen?

Es klingelt.

Wer klingelt denn noch, die Familie hat doch schon Vormittag angerufen, sie wollen am Wochenende kommen zu siebzigsten.

Draußen auf der Straße sind Pfützen, in denen Regentropfen Kreise malen, Der Oktober ist wie ein kalter April. Vor dem Haus steht ein Möbeltransporter, Arbeiter tragen Möbel ins Haus.

Eine Frau steht daneben. Vielleicht eine neue Mieterin. Sie gestikuliert lebhaft, lacht mit den Arbeitern, sie scheint gut drauf zu sein. Sie ist auch älter.

Im Haus gibt es viele kleine Wohnungen.

Sie lächelt. Es kann ja sein, es entwickelt sich zu einem Haus der alten Damen. Und ich mittendrin.

Es klingelt schon wieder.

Jetzt geht sie ran.

„Ja?“

„Gerda?“

„Ja, Thomas?“

„Ich habe sie erreicht.“

„Und?“

Er macht eine bedeutungsvolle Pause.

Er ist immer noch wie ein kleiner Junge, und sie ist Gerda, seine verständnisvolle alte EX.

„Sie hat gesagt, entweder richtig oder gar nicht.“

„Wie?“

Thomas sprudelt die Nachricht förmlich heraus.

„Sie will heiraten.“

Das verschlägt ihr fast die Sprache, sie muss sich hinsetzen, der Glasschrank ist weit weg, um sich dran festzuhalten. Sie plumpst auf das Sofa.

Vor fünf Jahren hatte Thomas mal gefragt, ob sie ihn nicht heiraten möchte.

„Und was hast du gesagt?“ fragt sie.

„Ja, habe ich gesagt“, Thomas Stimme singt vor Freude, „dann sind wir eine richtige Familie.“

„Thomas“, sagt sie, „ich gratuliere, aber ich habe jetzt zu tun.“

„Ja, ist gut, ich melde mich mal wieder – sag mal?“

„Ja?“

„Würdest du zur Hochzeit kommen wollen?“ Er hat so ein dezentes Zögern in der Stimme.

„O nein, o nein“, sie lacht und spürt selbst wie gekünstelt es klingt, „da halte ich mich mal raus, mach dein neues Leben ohne Altlasten auf, und mache es richtig und mit Verantwortung.“

Er klingt erleichtert.

„Ja, du hast recht wie immer, bis dann mal.“

Und er legt auf.

Mein Gott, denkt Gerda, steht auf, geht ans Fenster, mit der Faust halb belustigt auf den Glasschrank schlagend, in was für eine Komödie bin ich da geraten, er kennt die Frau vielleicht drei Monate. Hätte sie selbst vor fünf Jahren Ja gesagt, hätte ich jetzt eine zweite Scheidung am Hals. Der Möbelwagen ist fort gefahren.

Es klingelt schon wieder.

Auf einmal weiß sie, wer das ist.

Das handelt sich um die Intuition einer Frau, darum weiß sie es. Johanna ruft an, Johanna ist ihre Uraltfreundin, Johanna kennt ihre Ehe, die Geschichte mit Thomas, Johanna ist selbst seit acht Jahren geschieden. Johanna ist boshaft, tratschsüchtig, neidisch und schadenfroh, je nach Bedarf. Kurzum, die beste Freundin einer Frau zum Ausheulen und Lästern.

Gerda schenkt sich ein neues Glas ein und hebt den Hörer auf:

„Hallo Johanna.“

„Happy birthday to you, happy birthday to you…“

Gerda lacht.

„Hör auf.“

„Bist du allein?“

Gerda hört den Unterton genau raus.

„Fast“.

„Hat sich Thomas gemeldet?“

„Ja.“

„Ich wusste, dass er deinen Geburtstag nicht vergessen würde.“

Gerda denkt, gar nichts weißt du.

„Soll ich vorbei kommen?“

„Nein.“

„Na ja, ich kann mir vorstellen, dass ihr besseres vorhabt.“

„Wir können uns morgen im Café treffen und quatschen.“

„Das ist es“, sagt Johanna, „das machen wir.“

„Also bis morgen“, Gerda legt auf.

Natürlich hatte Thomas nicht an ihren Geburtstag gedacht, ich kann ihr das ja morgen beichten, sie wird mich dann trösten wollen. Irgendwann muss man einer besten Freundin immer die Wahrheit sagen.

In Wahrheit erwartet Gerda so etwas gar nicht, dass Männer an Geburtstage denken, Männer sind Männer halt.

Jetzt ist sie schon ein wenig blau.

Ich könnte ja runter gehen, irgendwo müssen Umzugskarton stehen und mir zum siebzigsten eine neue Freundin anschaffen…

Auf einmal muss sie kichern

Vor vier Jahren, als sie 66 Jahre alt wurde, ging sie mit Johanna in ein Lokal, das heißt „Clärchens Ballhaus“ und war schon vor achtzig Jahren gegründet worden. Schon damals gingen ältere Berliner Damen zum „Schwof“ wie es hieß und amüsierten sich prächtig.

Johanna und sie amüsierten sich auch. Und da kam ein älterer Herr mit einem wunderbar gezwirbelten Schnurrbart:

„Welche der Damen darf ick hier beim Schweben übers Parkett bejleiten, gestatten, ick bin Paule, der Eintänzer von dit Etablissements und jehöre jewissermaßen zum Inventar…“

Es war ein wundervoller Abend zu dritt. Und irgendwann hatte sich wohl Johanna verliebt. Paul Charme, Witz und seine Schlagfertigkeit waren ansteckend.

Sie fragte Paul, ob er allein lebe.

„Ick bin seit vier Jahren Witwer, meine Inge und icke, wa lebten sechzich Jahre zusammen wie zwee Tauben, ick könnte noch, aber ick will nich mehr, ick fass keene mehr an, wenn a vasteht“…

Auf dem Heimweg versuchte Gerda, Johanna zu trösten, dass wäre eben die besten Männer, Liebe über den Tod hinaus, die sind nicht mehr erreichbar.

Da blieb Johanna stehen, sie stand wie ein Spatz im Abend, damals nieselte auch so der Regen, sie stand unter einer Straßenlaterne wie allein in Berlin:

„Vielleicht bin bloß icke nich de Richtje for ihm.“

Gerda stand der Mund offen.

„Dass ist das erste Mal, dass ich dich Berlinern höre…“

„Ick hab ma bloos schon druff einjestellt.“

Und dann kreischten sie beide vor Vergnügen. Mit sechsundsechzig Jahren…

Vor vier Jahren.

Sie lacht, singt und dreht sich.

Das ist mein Tag.

Kalt in Deutschland

Wir sitzen bei der netten Türkin und trinken unseren Vormittagskaffee. Schön leer ist es um diese Zeit. Durch das große Fenster können wir auf die Straße schauen, hier drinnen ist es warm und heimelig, und draußen kalt und ungemütlich. Eine angenehme Schläfrigkeit sitzt noch in unseren Gliedern. Sex haben wie Ertrinkende.

„Ach“, ich spreche leise, mehr für mich, „ich muss der Frau nachher zehn Cent mehr geben, das letzte Mal hatte sie kein Kleingeld.“

In Gedanken versunken, drückst du die Zigarette in den Aschenbecher. Mein Gott, wie lange drückst du nur die Zigarette aus.

Dann sagst du nebenbei:

„Ich mach‘ das denn schon, ich bezahle doch für dich.“

Die Türkin kramt irgend etwas in der Küche. Eine triste Stimmung kommt aus deinem traurigen Gesicht zu mir herüber, warum nur, es ist doch schön hier.

„Warum machst du das?“

„Was?“

Ich zünde mir noch eine Zigarette an.

„Du bezahlst immer für mich, denkst du, ich kann mir keinen Kaffee leisten, keine zwei Biere, immer bist du schneller, immer bezahlst du.“

Vielleicht hilft dir ein Witz.

„Weil du Theologie studierst, oder was?“

Dein Lächeln erstickt schon im Anflug zu einem Grinsen. O Gott, du hast ja Tränen in den Augen.

Dann endlich gelingt dir ein fettes Grinsen, willst mich nicht belasten, he.

„Ich habe die Uni schon seit drei Jahren nicht von innen gesehen.“

„Und woher hast du dein Geld?“

Sicherheitshalber gebe ich dir gleich die Möglichkeit der Antwort:

„Reiche Eltern?“

Wir schauen auf die Straße, und deine Worte klirren:

„Ja, meine Eltern sind reich.“

Mehr will ich gar nicht hören.

Du bist aus dem Westen in unsere Stadt gekommen wie so viele andere, ihr hattet gedacht, jetzt hier ist ein wahres Leben möglich. Was um Gottes Willen ist ein wahres Leben?

Theologie studieren ohne an Gott zu glauben?

Ihr habt uns mit all den anderen überrollt, ach, du kannst ja nichts dafür.

Wir haben es verpatzt. Und ihr seid nun da.

Der alte Mann erscheint, der schon seit Jahren die Straßen auf und ab läuft, und mit den Füßen die Zigarettenkippen vom Bürgersteig auf die Straße schießt, seine Lebensaufgabe.

Dann wird deine Stimme leise, ich brauche dich nicht ansehen, du bist bitter.

„Reiche Eltern geben einem kein Geld.“

Jetzt weiß ich, ich soll dich fragen, woher du dein Geld hast.

Das kannst du vergessen.

„Dann musst du mich nicht aushalten.“

Der alte Irre hat inzwischen die Höhe unseres Cafés erreicht. Deutlich ist sein Gesicht durch die Scheibe zu sehen, er beachtet uns nicht. Er blickt – seelenlos. Vor Jahren grüßte er mich immer mit einem fast bellenden Tonfall:

„Guten Tag, der Herr.“

Das macht er schon lange nicht mehr, aber seine Kippen schießt er zielsicher vom Bürgersteig auf die Straße. Wenigstens der Bürgersteig soll sauber sein, ob er nach einem Plan vorgeht?

Ich denke mir, er war in der DDR mal ein hohes Tier und hat inzwischen den Verstand verloren, andere hatten sich erschossen, weil sie unfähig waren und es endlich erkannten.

Bissel spät dafür…

Einen aussichtslosen Traum vom Sozialismus, ja, wenn sich seine Führer lieber Miele Waschmaschinen in die Wohnunge stellten, die sie im Westfernsehen in der Werbung gesehen hatten, das war doch nix, das konnte doch nichts werden, oder…

„Vielleicht möchte ich auch mal jemand aushalten, wenn ich immer ausgehalten werde.“

Scheiße, jetzt hast du es ausgesprochen, was soll ich sagen, nichts, nichts.

Ihr seid so leer wie wir erst werden müssen.

Du wartest, na dann warte mal schön. Endlich stehst du auf, und die Türkin kommt, und du bezahlst, zehn Cent mehr vom letzten Mal mit, korrekt, nicht wahr.

Dann gehst du hinaus, ohne dich zu verabschieden. Woher bist du eigentlich, aus Westfalen oder gar aus Schwaben oder Bayern? Früher gab es hier nur Berliner. Na ja.

Früher hat euch der Osten nicht interessiert, eure Eltern sind lieber nach Italien gefahren, die ganz Ausgekochten hatten ein Haus in Frankreich… DDR, paah.

Mein Kaffeepott ist noch halb voll. Ich trinke einen kleinen Schluck. Mit hängenden Schultern gehst du ganz langsam, als wenn du ziellos bummelst hinter dem alten Mann her.

Ab und an schießt du eine Zigarettenkippe, die er vergessen hat, vom Bürgersteig auf die Straße, vom Bürgersteig auf die Straße.

Geh man schön, aushalten brauchst du mich nicht, bist doch selbst nur eine Verliererin.

Wenn du ehrlich sein möchtest, geben wir uns die Hand und du siehst mich an auf Augenhöhe, so sagt man doch bei euch? Oder?

Was bin ich eigentlich für dich? Ein interessantes Auslaufmodell aus dem untergegangenen Osten?

Oder ein Freund, ein wahrer Freund, ha.

„Ist kalt in Deutschland“, sagt die Türkin, als sie den Aschenbecher leert.

„Stimmt“, sage ich und wie lächeln uns an.

Irgendwie menschlich.

Glück

windbuchencom

 

Der alte Mann ging auf den Hof und hackte Holz.

Die Frau schaute aus dem Fenster und sah ihm nach und seinem etwas schwankenden Gang, der immer noch bedächtig und fest war. In der Hand die Axt ging er zum Holzstapel.

Dann hörte sie den ersten Schlag und danach das Holz splittern. Er arbeitete stetig, langsam, aber ohne Pause.

Sie kochte und räumte die Küche auf. Draußen klang das Holzschlagen wie Musik in der Kälte.

Nach zwei Stunden kam er herein.

Er zog sich aus und legte seine Kleidung über den Stuhl.

Sie beobachtete ihn durch die geöffnete Küchentür.

Sie konnte bis ins Bad sehen. Er hatte die Tür nicht geschlossen.

Mit welcher Bedacht und Sachlichkeit er sich rasierte, faszinierte sie. Er hatte einen nackten Körper, der alt, aber immer noch stark war. Welke Haut, faltige Haut, knochige und große Hände, starke Knochen. Der Körper eines Arbeiters, auf seinen Schultern Altersflecke groß wie Geldstücke. Unter den Augen Tränensäcke, der Hals faltig, aber noch nicht dünn, der Nacken immer noch fest, die Arme muskulös. Sein Hintern auch immer noch fest, die Schenkel stark, der Schwanz größer als früher, fand sie.

Er wusch sich langsam wie er alles langsam tat, sorgfältig und gründlich, nicht zärtlich wie eine Frau es tut, aber sachlich genau.

Dann zog er sich wieder an.

Sie schlug Eier in die Pfanne.

„Willst du Kaffee zum Frühstück oder Tee?“

„Kaffee“, sagte er und lächelte.

Als er saß, goss sie ein.

Sie berührten sich einen Moment wie unbeabsichtigt und hielten inne.

Sie spürten beide eine Welle von Liebe.

„Draußen riecht es nach Schnee, er ist schon in den Bergen.“

Sie setzte sich ihm gegenüber und sah ihm zu wie er aß.

„Ich freue mich auf den Winter“, sagte sie.

Er schwieg.

Wie lange werden wir noch so glücklich sein, dachte sie und stand auf, um nicht ihre Rührung zu zeigen. Sie räumte am Herd.

Als sie sich umdrehte, sah er sie an und schob den leeren Teller von sich weg.

„Danke“, sagte er. Er lächelte wie Mut machend.

„Für was?“ fragte sie.

„Für alles.“

(Foto:Von Richardfabi – Eigenes Werk, Gemeinfrei)

Der Noppelpreis

Berlin, Thomas Mann
Zentralbild Thomas Mann bürgerlich-humanistischer Schriftsteller von Weltgeltung. geb.: 6.6.1875 in Lübeck gest.: 12.8.1955 Kilchberg (Schweiz) 1929 erhielt er den Nobelpreis. 41175-29, Scherl Bilderdienst,

 

An diesem denkwürdigen späten Septembertag besuchte ich Kamenke vormittags um elf. Kamenke besaß eine Kneipe zwei Straßen von meinem Heim entfernt, in der man ganz gemütlich sitzen konnte. Katrin hatte Dienst, und sie war noch völlig allein. Draußen schien zwar die Sonne, aber es war schon kalt, um auf der Straße zu sitzen. Katrin hatte allerdings Stühle und Tische aufgestellt, jedoch ich zog einen Platz im Innern vor. Kamenke bekam schon früh alle Zeitungen der Stadt, so dass ich in Ruhe bei einer Tasse Kaffee die Stellenangebote lesen konnte. Seit zwei Monaten war ich arbeitslos. Ich rauchte und las. Plötzlich schaute ich hoch: In der Tür, die Katrin offen ließ, stand ein kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Neugierig guckte es herein. Das war eigentlich nicht außergewöhnlich, denn neben Kamenke befand sich ein großer Spielplatz.

„Hallo, du“, sagte Katrin zum dem Kind, sie kannte es scheinbar.

„Hallo, Katrin“, antwortete die Kleine.

Es war ein niedliches Mädchen mit blonden Rastazöpfchen.

Ich vertiefte mich wieder in die Flut der Annoncen.

„He!“

Das Mädchen stand auf einmal neben mir. Ich schaute zu Katrin, sie putzte Gläser und grinste eigenartig.

„He, du.“ Ich zog an meiner Zigarette.

„Bist du einer von den bösen Onkels, die kleine Mädchen ansprechen?“

Mir stand der Mund vor Stauen offen, fast schien es mir, als ob Katrin im Hintergrund kicherte.

„Nein, so ein böser Onkel bin ich nicht.“ Ich wendete mich wieder der Zeitung zu.

„Die dann kleine Mädchen zu einer Cola einladen?“

Die Kleine stand immer noch da und starrte mich durchbohrend an.

„Um Gottes Willen, nein.“

Das niedliche Mädchen erklomm den erhöhten Podest, auf dem ich saß, und kletterte anschließend auf die Bank, mir gegenüber.

„Dann ist ja gut, vor solchen Onkels warnt mich meine Mama nämlich immer.“

Ich legte die Zeitung zusammen und schaute ihm in die unschuldigen blauen Augen.

„Dann hast du eine gute Mama, und du solltest auf sie hören.“

Mit diesen Worten drückte ich meine Zigarette aus und trank einen winzigen Schluck Kaffee.

„Deine Worte zeigen mir, dass du ungefährlich bist, und ich erlaube dir, mich zu einer Cola einzuladen.“

Nachdenklich schaute ich mir dieses Mädchen an. Es besaß eine Stupsnase und lächelte.

„Machst du das immer so? Ich bin ein armer Mann.“

Die Kleine hielt meinem Blick stand.

„Dann bist du doch ein böser Onkel, wenn du mir keine Cola kaufst. Wenn ein Kind Durst hat, muss man ihm zu Trinken geben.“

Ich drehte mich um. Katrin lachte. Ich knurrte.

„Katrin, bring der Kleinen bitte eine Cola.“

Das Mädchen lächelte und ergänzte meine Bestellung:

„Katrin, mit Eis und einem blauen Strohhalm.“

„Ja, sofort“, bemerkte Katrin und bereitete das gewünschte Getränk zu.

Als sie die Cola mit Eis und blauem Strohhalm auf den Tisch stellte, sagte Katrin kichernd zu mir:

„Du musst wissen, sie hat jetzt ihre blaue Periode, vorher hatte sie die rosa Periode.“

Das Mädchen sprach fast beiläufig:

„Ach, Katrin, das brauchst du nicht zu erwähnen, dieser Mann hat noch nie was von Picasso gehört.“

Mich fegte es fast von der Bank.

„Hör mal zu, du kleines freches Ding, ich bin zwar nur ein einfacher Arbeiter, aber von Picassos Malperioden hörte ich schon.“

Das Mädchen saugte hingebungsvoll am Strohhalm. Dann hatte es anscheinend

genügend für den ersten Durst getrunken und hielt inne. Es schaute mich durchdringend an.

„Das ist gut, wenn du nicht so dumm bist, wie ich anfangs dachte.“

Langsam wurde ich nervös und zündete mir erneut eine Zigarette an.

„Mach ich dich nervös?“ fragte die Kleine.

„Ach was“, sagte ich und schaute gedankenvoll der Qualmwolke nach.

„Was bist du denn vom Beruf?“

„Fliesenleger.“

Die Kleine kicherte. Ich blickte wieder zu Katrin. Sie hörte sehr interessiert zu.

„Das ist doch ein guter Beruf, mein Papa ist Elektriker.“

Irgend etwas in mir löste sich, eine nicht erklärbare Spannung.

„Das ist auch ein guter Beruf.“

„Tja“, das Mädchen schaute ein wenig sinnend, „meine Mama hat ihn vor zwei Jahren über den Jordan geschickt.“

Die Spannung in mir baute sich wieder auf.

„Warum denn das?“

„Er war schon ein Jahr arbeitslos und fing an zu saufen, bis es uns zu viel wurde.“

„Aha.“

Ich drehte mich zu Katrin um und sagte:

„Katrin, sei so nett und bring mir ein Bier.“

Diese schien aber auch nichts zu begreifen.

„Seit wann trinkst du am Vormittag schon Alkohol?“

Das kleine Mädchen lachte.

„Er kriegt es mit der Angst zu tun.“

Als Katrin das Bier brachte, stellte ich sie zur Rede.

„Sag mal, was ist denn das für ein Kind?“

Katrin lachte nur, während die Kleine lustig ihre Rastazöpfchen wirbelte, und an Stelle Katrins antwortete:

„Ich bin frühreif, superintelligent, ein Wunderkind, schon von mehreren Psychologen getestet.“

„Du hörst es“, sagte Katrin, die nur nebenbei kellnerte und Literaturwissenschaften studierte. Sie lachte. Jetzt wusste ich, mit wem ich es zu tun hatte. Dieses Kind musste ich wie eine Erwachsene behandeln.

„Na ja, weißt du“, sagte ich, „ich bin gern Fliesenleger, aber über das Arbeitsamt bekomme ich keinen Job, sie bieten mir eine Umschulung, als Elektriker, an.“

„Deswegen musste ich so lachen, meinen Papa boten sie eine Umschulung, als Fliesenleger, an. Das ist schon eine verrückte Welt, sie muss neu organisiert werden.“

Da ich nun informiert war, dass ich es mit einem Wunderkind zu tun hatte, nahm ich es ernst.

„Da hast du völlig Recht.“

Die Kleine schaute etwas suchend umher, und ich fragte aufmerksam:

„Hast du noch einen Wunsch?“

„Ja“, sagte das Kind, „pommes, ist nicht teuer.“

Ich wendete mich an Katrin.

„Bring ihr bitte pommes frites, aber lass mich nicht so lange allein mit ihr.“

Katrin eilte in die Küche. Sie rief von dort:

„Mit Ketchup oder Mayonnaise?“

„Heute Mayonnaise“, sagte die Kleine.

Wir schwiegen. Ich rauchte. Das Kind schaute.

„Wie alt bist du eigentlich?“

„Dreißig und du?“

„Sechs.“

Katrin stellte dem Mädchen das gewünschte Essen vor die Nase.

„Danke“, sagte es und begann sofort genussvoll zu essen, sprach aber dabei,

„Dreißig ist gut.“

Katrin stand bei uns.

„Wieso?“ fragte ich.

„Mit sechzehn schreibe ich einen Roman, es geht um die Liebe eines sechzehnjährigen Mädchens zu ihrem vierzigjährigen Stiefvater, der darüber zum Alkoholiker wird und so.“

Mein Mund stand einen Moment lang offen. Katrin sagte:

„Den Roman ‚Lolita’ gibt es aber schon.“

Das Mädchen stopfte sich förmlich mit pommes voll und antwortete undeutlich:

„Nabukov ist veraltetet, ich bring da Szenen der modernen Musik rein, absurde Szenen, auch ein wenig perversen Sex und so.“

Ich schaute Katrin an. Katrin zuckte nur die Schultern und grinste.

„Kannst du denn schon schreiben?“ fragte ich.

„Nö“, antwortete das Kind, „meine Mama will, dass ich normal zur Schule gehe, aber Schreiben, das ist nur Handwerk, nicht so wichtig, es kommt auf die Fantasie an, und dann erhalte ich den Noppelpreis.“

Ich trank ein halbes Bier in einem Zug aus und ließ das Kind nicht aus den Augen. Katrin zapfte schon das nächste Bier.

„Äh“, sagte ich, „was ist der Noppelpreis?“

Von hinten lachte Katrin.

„Der Nobelpreis.“

Ich schwieg erschüttert.

„Übrigens“, meinte das Mädchen, „keine Angst wegen der Parallelen mit dem Alter, autobiographische Details benutzt eine Autorin oder ein Autor nur, als Anregung, das muss dann nicht alles Wirklichkeit werden.“

„Aha.“

Mein Bierglas war leer, und Katrin stellte ein neues Bier auf den Tisch. Ich zündete mir wieder eine Zigarette an, lehnte mich zurück und fragte behutsam:

„Was verstehst du eigentlich unter perversem Sex?“

Die Kleine beugte sich vor.

„Stell dir mal vor, meine Mama hat sich ein Tattoo machen lassen.“

Sie starrte mich an, als wolle sie mich hypnotisieren.

„Ja, und?“

So ein Wunderkind war nicht leicht zu verstehen.

„Was meinst du, wo?“

„Ja wo?“

Jetzt betonte das Mädchen jedes Wort überdeutlich:

„Auf den Hintern, einen Schmetterling, ich meine, es ist doch denkbar, dass ein Mann beim Sex das sieht.“

Erleichtert atmete ich aus.

„Da hast du allerdings recht, das ist pervers.“

In diesem Augenblick betrat eine junge, sehr schlanke Frau die Kneipe.

„Katrin, hast du meine Kleine gesehen?“

Gleichzeitig entdeckte sie ihr Töchterchen.

Sie kam zu uns an den Tisch und sah mir in die Augen.

„Wieso sitzt meine Tochter bei Ihnen?“

Ehe ich antworten konnte, sprach das Mädchen:

„Der Onkel redete mich auf dem Spielplatz an, er sagte, er hätte zu Hause viele Puppen, zuerst kaufte er mir ’ne Cola und pommes, und dann soll ich mit ihm nach Hause kommen, die Puppen baden.“

Ich dachte, mein Herz blieb stehen. Die Blicke der jungen Frau versuchten mich zu töten.

„Sie Schwein“, sagte sie, „Katrin ruf bitte die Polizei.“

Katrin bekam einen Lachkrampf. Die junge Frau wirkte sehr irritiert.

Das Mädchen kicherte.

„Es ist ja nichts passiert, Mama, aber er ist Fliesenleger, und du hast doch gesagt, Fliesen fürs neue Bad kannst du kaufen, aber sie verlegen, das wird zu teuer, ich meine, er kann es gut machen, wenn er uns das Bad fliest, dafür lassen wir die Polizei aus dem Spiel.“

Ich konnte nur noch flüstern.

„Katrin, bitte, hilf mir.“

Katrin sagte:

„Ich denke, du solltest das Bad fliesen, du langweilst dich doch eh.“

Ich sah die Frau an.

„Die Fliesen haben Sie schon?“

Sie antwortete:

„Ja, aber, wenn Sie mein Kind belästigt haben, dann dürfen Sie auch nicht mein Bad fliesen.“

„Mama“, flüsterte das Mädchen, „es war nur meine Fantasie.“

Mir fiel ein Stein vom Herzen.

„Wann soll ich kommen?“

Die Mutter schaute verstört auf ihr Wunderkind.

„Morgen um zehn?“

„Okay, unter einer Bedingung.“

„Welche?“

„Sie lassen mich nie mit diesem kleinen Luder allein.“

Das Mädchen grinste.

Katrin und ich schauten den beiden hinterher, als sie die Kneipe verließen.

Die Mutter trug knallenge Jeans.

„Einen Schmetterling“, sagte Katrin und grinste.

Ich knurrte.

„Eines Tages bekommst du auch noch den Noppelpreis.“

 

Supermarktkassenschlange

index

„Stellen Sie sich doch an der anderen Kasse an.“

Schweigen.

„Möchten Sie sich nicht an der anderen Kasse anstellen?“

„Nein.“

„Aber dort ist die Schlange viel kürzer.“

„Ja, und?“

„Dann sind Sie eher dran.“

Schweigen.

„Sie scheinen ja viel Zeit zu haben.“

„Schon möglich.“

„Sehen Sie, jetzt ging einer an die andere Kasse, der ist eher dran als Sie und ich.“

„Na und.“

„Selbst, wenn Sie sich hinter diesem Kunden anstellen würden, würden Sie eher dran sein, nun gehen Sie endlich an die andere Kasse.“

„Hören Sie.“

„Ja, endlich sagen Sie mal was.“

„Wenn es Sie so bewegt, gehen Sie doch einfach selbst an die andere Kasse, und lassen mich in Ruhe.“

„Aber das geht doch nicht.“

„Warum?“

„Ich würde mich ja vordrängeln. Sie stehen schon länger.“

„Das macht mir nichts aus.“

„Das sagen Sie so einfach dahin, ich bin ein rücksichtsvoller Mensch, das ist meine Natur, verstehen Sie, wir alle müssen uns innerhalb einer Gruppe vieler Menschen untereinander fair verhalten, denn sonst hätten wir den Anfang der Anarchie. Wenn ich mich einfach wie dieser Kunde an der anderen Kasse anstelle, obwohl ich nach Ihnen gekommen bin, dann bewege ich mich in einer Gruppe wie sie die Kunden dieses Supermarktes darstellen, als ein Egoist gegenüber den anderen Kunden, zum Beispiel Ihnen, das ist in jeder Gruppe der Nährboden für Aggression.“

„Aha.“

„Sehen Sie, jetzt sind wieder zwei neue Kunden gekommen, die sich einfach an der anderen Kasse anstellen, jetzt werden Sie bloß nicht aggressiv, jetzt sind die dort übrigens gleichauf, da können wir auch hier stehen bleiben.“

„Seh’n Sie.“

„Sind Sie Buddhist oder so was?“

„Nein.“

„Dann scheinen Sie es wohl sehr zu genießen in einem Supermarkt herumzustehen, sind Sie so einsam?“

Schweigen.

„Sie wollen sich wohl nicht mit mir unterhalten?“

„Nein, ich bin jetzt dran.“

„Dann gehe ich an die andere Kasse.“