Es bleibt still. Sie schaltet kein Radio an. Und geht in der stillen Wohnung umher wie ihr eigener Schatten. Draußen ist es den ganzen Tag über nicht hell geworden. Das Jahr ist vorbei wie ein Leben, denkt sie und lächelt mit einer gewissen Melancholie, das Gefühl der Unsterblichen, wie sie neulich las.
Sie geht zum Weinregal und sucht sich einen schweren Roten aus, mit einem Hauch von Süße. Restsüße, denkt sie, das ist ein gutes Wort und spricht es laut aus, um es zu kosten.
„Restsüße“. Irgendwann werden wir alle zu einer Restsüße.
Der Wein gluckert in die Stille, als wolle er freundlich anklopfen, während sie eingießt.
Sie könnte den Computer einschalten und nachschauen, ob eine Mail von ihm drin ist. Aber die ist nicht drin. Das weiß sie auch so, warum sich mit unnützen Hoffnungen quälen.
Sie sitzt ganz gerade, während sie trinkt. Sie trinkt einen winzigen Schluck mit spitzen Lippen.
Er hat eine Jüngere getroffen und sich Hals über Kopf verliebt.
Das ist nun mal so, denkt sie, das war zu erwarten.
Sie ist eine Frau, die siebzig Jahre alt ist. Und sie hatte zehn Jahre lang einen jüngeren Geliebten.
Er ist fünfundsechzig. Das war wie ein Lottogewinn, der nun mal leider aufgebraucht ist. Sie bereut keinen Tag der zehn Jahre.
Ihr erster Gedanke war, ob das so eine Art Rache von ihm sein sollte, eine Rache für die entbehrungsreichen Jahre mit einer älteren Frau.
Darum fragte sie:
„Wie viel Jahre jünger ist sie?“
Er hatte sofort geantwortet am Telefon:
„Zwanzig.“ Er ist ein Mann und ehrlich, jedenfalls zu ihr. Sie quittiert das auch als eine Art Respekt.
Zwanzig Jahre.
Sie war verblüfft und dachte, Rache kann das nicht sein.
„Aber es ist Liebe“, hatte er noch so nachgeschoben, ganz klar, hoffend auf ihr Verständnis.
Sie blieb cool.
„Zwanzig Jahre jünger als ich oder als du?“
„Als ich, aber das ist doch auch egal. Es ist Liebe, und nur das zählt.“
Sie tat so, als überlege sie.
Dann sagte sie:
„Das stimmt.“
Das war vor einem Monat.
Jetzt stützt sie die Hände auf die Knie und sitzt weiterhin gerade, wie eine Kerze, sagt man, denkt sie und lächelt über sich selbst. Haltung bewahren. Wie wir Menschen aus Posen bestehen.
Als das Telefon klingelt, steht sie doch ein wenig zu schnell auf.
„Ja?“
„O mein Gott, o mein Gott“, hört sie seine Stimme.
„Was ist denn los?“
„Sie ist weg, ich bin allein“, sie hört ihn schluchzen. Wie ein kleiner Junge, dem man das Spielzeug weggenommen, denkt sie.
„Ist es denn aus?“ fragt sie.
Er schweigt und schnäuzt sich dann geräuschvoll die Nase.
Auf einmal sagt er mit einer kalten Stimme.
„Es wird nie aus sein.“
„Dann musst du leiden“, sagt sie.
„Leiden?“
„Ja“, sagt sie, „mach was draus. Zur Liebe gehört nun mal das Leid.“
Er räuspert sich. Sie wartet.
„Ich melde mich dann“, sagt er und legt auf.
Sie geht zurück zur Couch und trinkt wieder einen winzigen Schluck Wein mit Restsüße.
Auf einmal wird ihr bewusst, dass ihr letzter Satz, zur Liebe gehöre das Leid, aus ihr gesprochen hat wie eine innere Stimme, und dass dieser Satz auch ihr selbst gilt.
Nein, sie leidet nicht, weil sie ihn nie wirklich geliebt hat, sie hat ihn gemocht, und zwar sehr, aber nicht geliebt, und das war gut, und darum ist es jetzt gut so.
Als er die junge Frau kennen gelernt hatte, das war wohl vor drei Monaten, sagte er:
„Weißt du, was sie gesagt hat?“ Seine Stimme bebte vor Rührung.
„Was denn?“
„Bevor wir uns küssen, sollten wir uns duzen.“
Sie hatte geschwiegen und dachte, das sagen sie alle. Und dachte, ach du Dummerchen.
Und jetzt ist sie eine Frau mit siebzig Jahren und wird für immer allein sein.
Das Telefon klingelt schon wieder. Sie geht nicht ran.
Neulich schrieb einer im Internet, er mag so die Gespräche mit siebzigjährigen Damen, denen könne man alles sagen.
Sie ist noch nicht ganz so weit, denkt sie und lächelt schmal in die stille, dunkle Wohnung wie eine Nadel, die piekst, ins Nichts, sie ist noch nicht so weit, jedem auch zuzuhören.
Es klingelt schon wieder.
„Mein Gott, siebzig Jahre“, sagt sie laut in die Stille hinein.
Dann entspannt sie sich, der Wein scheint zu wirken. Sie betrachtet sehr intensiv den kleinen Glasschrank. Das ist alles, was ihr von ihrer Ehe geblieben. Ihr Mann hatte den höchstpersönlich selbst gebaut. Sie lächelt jetzt bitter. Er sieht aus wie antik, wenigstens dieser Schrank war gelungen.
Sie weiß noch nicht einmal, ob ihr Mann noch lebt, er müsste jetzt zweiundsiebzig sein.
Er war wie ein Tier. Dieser Gedankensatz in ihr ist ein Schrei, den niemand auch noch hören soll.
Sie weiß, dass jede Frau Dinge im Leben hat, die sie irgendwann mit sich selbst ausmachen muss und nicht in die Welt hinaus posaunen. Vielleicht geht es auch Männern so. Die sind ja angeblich besonders schweigsam.
Sie seufzt. Wenn sie heute von der Diskussion hört über Vergewaltigung, die auch in einer Ehe passieren können, dann weiß sie es schon lange.
Als sie vor achtzehn Jahren so verletzt war, dass sie einen Arzt aufsuchen musste, hatte er ein langes Gespräch mit ihr, das der Auslöser war, dass sie sich drei Jahre später endlich scheiden ließ.
Ich wollte, der Kerl wäre heute tot, denkt sie, ich habe sogar seinen Namen vergessen, nur den Glasschrank habe ich noch.
Jetzt lächelt sie unter Tränen und trinkt einen Schluck Wein.
Zum Glück war ihr klar, dass auch der Arzt ein Mann ist, und dass nicht alle Männer gleich sind, sonst wäre sie wohl eine verbiesterte Emanze voller Hass geworden.
Thomas, ihren Geliebter, hatte sie vor zwölf Jahren kennen gelernt, sie war achtundfünfzig, und er war dreiundfünfzig, er war ein Kavalier wie aus alten Zeiten. Er war sanft, immer freundlich, sehr gebildet, bis zum Schluss war er so. Sie zogen zusammen und lebten wie Mann und Frau. Ja, aber sie hatte ihn nicht geliebt, sie hatte ihn gemocht, vielleicht ist das sogar mehr, und jetzt leidet sie nicht.
Vor zwei Monaten ist er ausgezogen, und er hat eine Frau gefunden, die ist zwanzig Jahre jünger als er und hat zwei kleine Kinder, er hat sie gerade angerufen, die Frau ist weg.
Mein Gott, sie steht auf und geht ans Fenster, sie stützt sich ein wenig an den Glasschrank ab.
Dann lacht sie plötzlich auf.
Vielleicht muss die Neue bloß mal nach den Kindern schauen, armer Thomas, du wirst mit dreiundsechzig Jahren auf den Spielplatz gehen müssen und alle Leute werden komisch gucken.
Der gehässige Gedanke macht ihr etwas Freude.
Nein, das ist nicht Ordnung, denkt sie, ich wünsche ihm ja alles Gute, bei mir gab ’s nur die Enkel ab und an, um die er sich sehr bemüht hat. Er hat ja keine eigenen Kinder.
Warum soll ich ihm das nicht gönnen?
Es klingelt.
Wer klingelt denn noch, die Familie hat doch schon Vormittag angerufen, sie wollen am Wochenende kommen zu siebzigsten.
Draußen auf der Straße sind Pfützen, in denen Regentropfen Kreise malen, Der Oktober ist wie ein kalter April. Vor dem Haus steht ein Möbeltransporter, Arbeiter tragen Möbel ins Haus.
Eine Frau steht daneben. Vielleicht eine neue Mieterin. Sie gestikuliert lebhaft, lacht mit den Arbeitern, sie scheint gut drauf zu sein. Sie ist auch älter.
Im Haus gibt es viele kleine Wohnungen.
Sie lächelt. Es kann ja sein, es entwickelt sich zu einem Haus der alten Damen. Und ich mittendrin.
Es klingelt schon wieder.
Jetzt geht sie ran.
„Ja?“
„Gerda?“
„Ja, Thomas?“
„Ich habe sie erreicht.“
„Und?“
Er macht eine bedeutungsvolle Pause.
Er ist immer noch wie ein kleiner Junge, und sie ist Gerda, seine verständnisvolle alte EX.
„Sie hat gesagt, entweder richtig oder gar nicht.“
„Wie?“
Thomas sprudelt die Nachricht förmlich heraus.
„Sie will heiraten.“
Das verschlägt ihr fast die Sprache, sie muss sich hinsetzen, der Glasschrank ist weit weg, um sich dran festzuhalten. Sie plumpst auf das Sofa.
Vor fünf Jahren hatte Thomas mal gefragt, ob sie ihn nicht heiraten möchte.
„Und was hast du gesagt?“ fragt sie.
„Ja, habe ich gesagt“, Thomas Stimme singt vor Freude, „dann sind wir eine richtige Familie.“
„Thomas“, sagt sie, „ich gratuliere, aber ich habe jetzt zu tun.“
„Ja, ist gut, ich melde mich mal wieder – sag mal?“
„Ja?“
„Würdest du zur Hochzeit kommen wollen?“ Er hat so ein dezentes Zögern in der Stimme.
„O nein, o nein“, sie lacht und spürt selbst wie gekünstelt es klingt, „da halte ich mich mal raus, mach dein neues Leben ohne Altlasten auf, und mache es richtig und mit Verantwortung.“
Er klingt erleichtert.
„Ja, du hast recht wie immer, bis dann mal.“
Und er legt auf.
Mein Gott, denkt Gerda, steht auf, geht ans Fenster, mit der Faust halb belustigt auf den Glasschrank schlagend, in was für eine Komödie bin ich da geraten, er kennt die Frau vielleicht drei Monate. Hätte sie selbst vor fünf Jahren Ja gesagt, hätte ich jetzt eine zweite Scheidung am Hals. Der Möbelwagen ist fort gefahren.
Es klingelt schon wieder.
Auf einmal weiß sie, wer das ist.
Das handelt sich um die Intuition einer Frau, darum weiß sie es. Johanna ruft an, Johanna ist ihre Uraltfreundin, Johanna kennt ihre Ehe, die Geschichte mit Thomas, Johanna ist selbst seit acht Jahren geschieden. Johanna ist boshaft, tratschsüchtig, neidisch und schadenfroh, je nach Bedarf. Kurzum, die beste Freundin einer Frau zum Ausheulen und Lästern.
Gerda schenkt sich ein neues Glas ein und hebt den Hörer auf:
„Hallo Johanna.“
„Happy birthday to you, happy birthday to you…“
Gerda lacht.
„Hör auf.“
„Bist du allein?“
Gerda hört den Unterton genau raus.
„Fast“.
„Hat sich Thomas gemeldet?“
„Ja.“
„Ich wusste, dass er deinen Geburtstag nicht vergessen würde.“
Gerda denkt, gar nichts weißt du.
„Soll ich vorbei kommen?“
„Nein.“
„Na ja, ich kann mir vorstellen, dass ihr besseres vorhabt.“
„Wir können uns morgen im Café treffen und quatschen.“
„Das ist es“, sagt Johanna, „das machen wir.“
„Also bis morgen“, Gerda legt auf.
Natürlich hatte Thomas nicht an ihren Geburtstag gedacht, ich kann ihr das ja morgen beichten, sie wird mich dann trösten wollen. Irgendwann muss man einer besten Freundin immer die Wahrheit sagen.
In Wahrheit erwartet Gerda so etwas gar nicht, dass Männer an Geburtstage denken, Männer sind Männer halt.
Jetzt ist sie schon ein wenig blau.
Ich könnte ja runter gehen, irgendwo müssen Umzugskarton stehen und mir zum siebzigsten eine neue Freundin anschaffen…
Auf einmal muss sie kichern
Vor vier Jahren, als sie 66 Jahre alt wurde, ging sie mit Johanna in ein Lokal, das heißt „Clärchens Ballhaus“ und war schon vor achtzig Jahren gegründet worden. Schon damals gingen ältere Berliner Damen zum „Schwof“ wie es hieß und amüsierten sich prächtig.
Johanna und sie amüsierten sich auch. Und da kam ein älterer Herr mit einem wunderbar gezwirbelten Schnurrbart:
„Welche der Damen darf ick hier beim Schweben übers Parkett bejleiten, gestatten, ick bin Paule, der Eintänzer von dit Etablissements und jehöre jewissermaßen zum Inventar…“
Es war ein wundervoller Abend zu dritt. Und irgendwann hatte sich wohl Johanna verliebt. Paul Charme, Witz und seine Schlagfertigkeit waren ansteckend.
Sie fragte Paul, ob er allein lebe.
„Ick bin seit vier Jahren Witwer, meine Inge und icke, wa lebten sechzich Jahre zusammen wie zwee Tauben, ick könnte noch, aber ick will nich mehr, ick fass keene mehr an, wenn a vasteht“…
Auf dem Heimweg versuchte Gerda, Johanna zu trösten, dass wäre eben die besten Männer, Liebe über den Tod hinaus, die sind nicht mehr erreichbar.
Da blieb Johanna stehen, sie stand wie ein Spatz im Abend, damals nieselte auch so der Regen, sie stand unter einer Straßenlaterne wie allein in Berlin:
„Vielleicht bin bloß icke nich de Richtje for ihm.“
Gerda stand der Mund offen.
„Dass ist das erste Mal, dass ich dich Berlinern höre…“
„Ick hab ma bloos schon druff einjestellt.“
Und dann kreischten sie beide vor Vergnügen. Mit sechsundsechzig Jahren…
Vor vier Jahren.
Sie lacht, singt und dreht sich.
Das ist mein Tag.