Leben in den großen Städten
Die meisten Menschen in den großen Städten leben allein. Und das ist besser so, als wenn man nach Hause kommt und dort wartet jemand mit einen stummen Vorwurf im Gesicht und auf dem Küchentisch steht ein Teller mit belegten Broten. Man kann sich noch nicht mal selbst eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank holen, ohne dass sich jemand in den Weg stellt. Zwischen den Menschen, die nicht allein leben, steht nämlich die Verzweiflung wie ein großes Gespenst, und die Verachtung hat sich längst schlafen gelegt, nur die Resignation grinst aus allen Ritzen der Wohnungen.
Wenn man allein lebt, kann man die Trostlosigkeit begrüßen, wie ein Briefmarkenalbum.
Ja, das Leben kann so langweilig sein wie ein Briefmarkenalbum.
Und das ist schön.
Man schaut sich die Tage an, wie Briefmarken. Manche sind kleiner als die anderen, manche größer und andere gleich groß, manche haben lustige Bilder, manche romantische Blumensträuße, dann gibt es welche mit Städtebildern und andere wieder mit berühmten Menschen, die dreiundzwanzig Sinfonien geschrieben haben oder sieben Kriege gewonnen, oder auch großartige Bauwerke geschaffen haben, welche nun zum Weltkulturerbe gehören, die Bauwerke gibt es in einer extra Briefmarkenreihe, man kann Köpfe von berühmten Männern anstaunen, die dreimal den Nobelpreis für Literatur bekommen haben und jetzt schon vergessen sind, außer – auf den Briefmarken. Und dann gibt es natürlich die Briefmarken mit den Pferdebildern, hundert verschiedene Rassen existieren auf der Welt, das habe ich im Internet gelesen.
Aber die Briefmarkengestalter suchen sich nur sechs heraus, ich schreibe das mal jetzt auf, dass man es sich vorstellen kann: Araber, Hannoveraner, Fjordpferd, Haflinger, Lipizzaner und dann das niedliche Shetlandpony.
Und so sind unsere Tage, wie Briefmarken eben, und die guten haben Zacken, und keine Zacke fehlt. Sie sind abgestempelt, weil sie mal irgend jemand auf die Reise schickte.
Das kann ein Soldat an der Front gewesen sein, der seiner Liebsten in der Heimat eine Feldpostkarte schickte. Bevor er wieder in den Schützengraben kroch, hat er noch die Marke beleckt und die Postkarte dem Spieß gegeben. Ich habe immer nur dich geliebt, hatte er geschrieben, bevor er den Karabiner durchlud und ihn die Kugel des Feindes traf, der gerade auch in einer anderen Sprache so eine Postkarte geschrieben hatte, je t’aime, mon amour, oder so was. Vielleicht hatte jeder von ihnen das gleiche Briefmarkensymbol gewählt, eine weiße Taube vielleicht sogar?
Das kann auch ein Blumenmädchen gewesen sein, welche dem Grafensohn in ungelenker Schrift mitteilte, dass sie nun ein Kindchen unter dem Herzen tragen würde, und dann, leb wohl, Herr Graf, in diesem Leben sehen wir uns nicht mehr wieder, ich stürz mich in den Mühlenbach. Sie hatte eine Briefmarke mit einer Klatschmohnblume drauf gewählt oder auch einen Beethovenkopf.
Wir haben sie nun alle schön abgestempelt und ordentlich und vollständig gezackt in unserem Briefmarkenalbum, dass wie ein schönes langweiliges Leben ist. Und schauen uns die Marken in elend langen Sonntagnachmittagen an und versuchen uns zu erinnern an unsere Tage. Irgendwann ermüdet unser Auge, irgendwie sieht eine Marke aus wie die andere, es ist so schwer, sich zu erinnern. Dann fangen wir an zu gähnen, schlagen das Briefmarkenalbum zu und kriechen auf die Couch für ein Schläfchen.
Aber nicht alle Tage sind so glückselig langweilig. Man weiß ja nie, was noch kommt. Ein russischer Zar kann Deutschland erobern und man wird in die Verbannung nach Kasachstan geschickt. Männer in grünen Ledermänteln erscheinen und führen einem ab zum Transport in einen Güterzug.
Man darf nur eine Tasche mitnehmen mit ein paar Socken und Unterhosen zum wechseln, obendrauf legt man noch das Briefmarkenalbum. Und man verlässt die große Stadt, um nur noch von ihr zu träumen.
Nach vier Wochen Transport landet man in einem einsamen Gehöft inmitten der kasachischen Steppe, und dort existiert noch nicht einmal ein Internetanschluss. Im Winter sind nachts fünfzig Grad Celsius minus und im Sommer tagsüber fünfzig Grad plus. Einmal in der Woche hält die Eisenbahn und ein altes Mütterchen bringt ein Päckchen Tabak, einen großen Topf Soljanka und eine Flasche Wodka.
Dann verbringt man seine Zeit damit, dass Briefmarkenalbum anzugucken. Nachts heulen die Wölfe und am Tage sieht man in der Ferne eine Kamelkarawane.
Dann erinnert man sich an eine außergewöhnlich schönen Frau, die man mal im Internet gesehen hatte, eine Frau in blauweißglänzender Unterwäsche und mit brauner Haut und blauschwarzglänzenden Haaren. Jeden Tag sitzt man da, das aufgeschlagenen Briefmarkenalbum auf dem wackligen Holztisch vor sich und schaut aus dem Fenster mit brennenden Augen und träumt von der schönen Frau. Irgendwann schreibt man dann einen langen Liebesbrief, in dem man der Frau mitteilt, wenn sie traurig sein sollte, biete man ihr an, sie könne einem besuchen kommen und man würde sie nachts in die Arme nehmen, wenn sie nichts weiter trägt als die blauweißglänzende Unterwäsche, und man würde sie trösten, sie könne dann ruhig weinen.
Diesen Brief gibt man dann einen Tag, wenn die Eisenbahn hält, dem Mütterchen mit auf dem Weg mit dem Auftrag, die Adresse der schönen Frau zu finden, eine Briefmarke mit dem Eiffelturm darauf zu kleben und abzuschicken.
Eines Tages bringt dann das Mütterchen den Antwortbrief der schönen Frau, in dem diese schreibt, sie habe herzhaft gelacht, aber wenn sie mal traurig sein sollte, käme sie bestimmt in die kasachische Steppe zu dem einsamen Gehöft. Ihre Briefmarke ist vielleicht das Bild einer roten Rose.
Man löst sie ganz vorsichtig ab und tut sie zu den anderen Briefmarken ins Album, wieder einen Tag geschafft… ja.
Manchmal ist das Leben so in den großen Städten, wie ein Briefmarkenalbum in Kasachstan.
Man kann auch beschließen zu Hause zu bleiben, wenn man denn ein Obdach hat in der großen Stadt. Das ist vielleicht das wichtigste, ein Obdach zu haben. Wir wollen einen Moment inne halten und an die Obdachlosen denken in den großen Städten. Sie liegen auf den kalten Bänken der U-Bahn-Stationen und wenn die Familien vorbei schlendern, fragen manchmal die Kinder: Papa, warum liegt denn der Mann da? Guck nicht hin, sagt dann der Papa und fasst das Kind ein wenig fester an. Sie steigen in die U-Bahn und fahren drei Stationen, um in die Kirche zu gehen, wenn es gerade ein Sonntagvormittag ist.
Nun wir haben ein Obdach und liegen auf der Couch und schauen auf unsere große Zehen und wackeln damit. Dann können wir uns wieder hinaus träumen aus der großen Stadt, weil wir neulich eine schöne Brasilianerin im Internet gesehen haben. Und das geht dann so auszuhalten, aber es muss unbedingt gerade regnen.
Manchmal ist man auch ausgebrannt. Das geht so:
Ich bin einmal in einer kleinen Kneipe gewesen, in der ich früher öfter mal war. Warum sollte ich nicht wieder einmal ein Bier hier zischen, habe ich mir gesagt und kehrte ein. Der Kellner, der gleichzeitig der Inhaber ist, freute sich und brachte mir sofort ein frisch gezapftes Bier. In einer Ecke saßen am Tisch vielleicht vier oder fünf Frauen und feierten lautstark, obwohl es nicht an einem achten März war, dem Internationalen Frauentag. Ihr Lachen schallte durch die ganze Kneipe, eine sagte irgend etwas, eine andere antwortete und dann lachten allesamt wieder laut schallend. Gackernde Hühner, ich lehnte mich zurück, um mir die hübscheste zum Beobachten auszusuchen. Vielleicht fiel während so einer Lachsalve, ein etwas irritierter Blick für mich ab. In der Mitte saß ein Liebespaar und hielt sich Händchen, und schaute sich seufzend in die Augen, es trank roten Wein.
Der Kellner und Inhaber plauderte ein wenig mit mir. Seine Frau war eine Bahnpolizistin und ein Betrunkener hatte ihr vor einer Woche den Arm gebrochen, und jetzt saß sie zu Hause und guckte Talkshows
Es war ein ganz normaler Tag mit einem ganzen normalen Leben ringsumher. Wir schwatzten dieses und jenes. Ab und zu traf mich der feurige Blick einer Schwarzhaarigen vom Frauentisch, das Liebespaar küsste sich scheu.
Da sah ich den einsamen Mann an der Bar sitzen. Ganz in der Ecke saß er, völlig unauffällig, wie ein grauer Stein. Er guckte vor sich hin, aber nicht so, als wenn er über etwas nachdenken würde. Er beobachtete auch keine alberne Frauengruppe, die herum gackert wie eine Hühnerschar. Er beobachtete nicht das scheue Liebespaar, geschweige denn den Kellner und Inhaber und mich im Gespräch über seine Frau mit dem gebrochenen Arm.
Ich winkte den Kellner und Inhaber näher heran und flüsterte, was mit diesem Mann sei. Er flüsterte zurück.
Dieser Mann sitzt wie ein Stein am Tresen und trinkt mit einer völligen Teilnahmslosigkeit sein Bier. Alle fünf Minuten einen Schluck, man könne seine Uhr danach stellen. Er verzieht nicht die Miene, dieser Mann ist völlig ausgebrannt. So der Kellner und Inhaber.
Mein Gott, sagte ich, das ist ja furchtbar, der Mann hat seine Neugierde verloren.
Ich nahm mein Bier in die Hand und setzte mich neben den Mann aus Stein.
Wir saßen minutenlang und schwiegen und alle fünf Minuten trank er einen Schluck Bier. Ich versuchte über den Spiegel einen Blick von ihm zu erhaschen, aber der Spiegel war leer, da saß nur ich. Und ich erschrak mich… in der großen Stadt…